Schwarzer Nachmittag

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Niemand merkte, dass Liv an diesem Tag nicht auf die Anderen wartete. Niemand sah, dass ihr Fahrrad nicht mehr am selben Platz stand.
Niemand wusste, dass Liv weg war. Liv hatte einen Zettel hinterlassen, um darauf aufmerksam zu machen, doch ihre Freunde warfen ihn in den Müll. Niemand achtete daruf, dass Liv nicht da war.

Liv hatte sich sofort nach der Ankunft in ihrem Zimmer eingeschlossen.
Wie immer saß sie dort und weinte.
Wie immer telefonierten ihre Eltern unten.
Wie immer spielte ihr Bruder im Zimmer nebenan an seinem Computer.
Wie immer war Liv todtraurig.
Wie immer wollte sie etwas sagen.
Wie immer sagte sie nichts.

Es klopfte an ihrer Tür und Liv wischte sich die Tränen weg. Hatte jemand gehört, dass sie weinte? War jemand gekommen, um ihr zu helfen? Wollte jemand, dass sie redete?
Liv öffnete die Tür und ihr Bruder kam herein. Er nahm sich die Schokoladentafel von ihrem Schreibtisch, die sie von ihren Großeltern bekommen hatte und verschwand ohne ein weiteres Wort.

Liv wollte ihn anbrüllen. Ihn beschimpfen. Ihm sagen, dass es ihreSachen waren, die er sich nahm. Dass sie die Schokolade hatte essen wollen. Dass er sie zurückgeben sollte. Doch kein Ton entwich ihren Lippen.
Liv sagte nichts.

Sie legte sich in ihr Bett und starrte die Decke an.
Ihre Eltern riefen zum Essen.
Sie stand auf und ging ins Esszimmer.
Sie setzte sich.
Ihre Eltern telefonierten und ihr Bruder hatte ihr nichts von dem Essen übrig gelassen.
Doch Liv sagte nichts.

Sie starrte auf ihren leeren Teller.
Sie hatte eigentlich auch gar keinen Hunger.
Sie wollte eigentlich gar nichts essen.
Liv sah zu ihren Eltern. Die merkten gar nicht, dass Liv mal wieder nicht aß.
Sie telefonierten und redeten mit Allen außer Liv.
Doch Liv sagte nichts.

Liv stand vor allen Anderen auf und ging in ihr Zimmer.
Ihre Eltern sagten, sie solle zurück kommen.
Doch Liv kam nicht zurück.
Dann telefonierten ihre Eltern wieder.
Ihr Bruder aß und tat was er wollte.
Liv saß in ihrem Zimmer und weinte.

Warum hörte sie denn niemand?
Liv wollte, dass jemand wusste, wie es ihr ging.
Dass jemand ihre Gefühle registrierte und ernst nahm.
Dass jemand mit ihr sprach.
Dass jemand wollte, dass sie sprach.
Doch Liv sagte nichts.

Sie weinte und weinte.
Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte, die sie weinen konnte.
Liv legte sich ins Bett.
Es war noch früh, doch sie wollte nicht, dass der Tag noch länger war.
Dass sie noch länger traurig sein musste.
Dass sie noch mehr Wut empfinden musste.
Dass sie noch länger schweigen sollte.
Also versuchte sie zu schlafen.

Es war ein Nachmittag wie jeder Andere. Wie jeder andere schwarze Nachmittag.

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