Dunkler Morgen

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Niemand merkte, dass Liv das Haus verließ. Ihr Bruder kümmerte sich um sich selbst und ihre Eltern telefonierten.
Liv schlug die Tür hinter sich zu, wartete darauf, dass jemand sie ermahnte. Denn das würde bedeuten, dass sie sich immerhin daran erinnern konnten, dass es sie gab. Dass sie existierte und mit ihnen unter einem Dach wohnte.
Doch niemand sagte etwas.

Liv ließ die Schulter hängen und stapfte zu ihrem Fahrrad. Sie schloss es auf, stieg auf und fuhr los.
Wie immer traf sie sich mit ihren Freunden um halb acht am Park, um gemeinsam zur Schule zu fahren.
Wie immer war sie als Erste da.
Wie immer kamen die Anderen in einer Gruppe von drei Personen.
Wie immer redeten sie miteinander und beachteten Liv nicht.
Wie immer sagte Liv nichts.

Den ganzen Weg zur Schule schwieg sie und sagte kein einziges Wort. Es schien, als würden ihre Freunde sie nicht einmal bemerken.
Liv hustete. Sie war nicht krank. Hatte nicht einmal einen leichten Schnupfen. Sie hoffte eimfach, dass man sie bemerken würde.
Liv täuschte ein Niesen vor. Ihre Freunde sagten nichts. Nur ein kleiner Junge, der die Hand seiner Mutter hielt und neben ihnen auf dem Weg hüpfte sagte etwas. "Gesundheit", strahlte er und zauberte Liv ein Lächeln auf ihr sonst so bedrücktes Gesicht.
Doch dann bog der Junge ab und mit ihm verschwand Livs Lächeln. Sie fuhren durch den Park, an dem Kiosk vorbei und über die schmale Straße zum Vordereingang der Schule.

Wie jeden Morgen, wenn sie Schule hatten, fuhren Liv und ihre Freunde über den Schulhof zu den Fahrradständern.
Auch heute kam Liv als Erste an und war als Erste fertig, während sich die Anderen lautstark unterhielten. Sie lachten und witzelten. Liv sah ihnen zu und spürte eine solche Sehnsucht in sich hochkommen, dass es schon fast wehtat.
Sie wollte mit ihnen reden, mit ihnen lachen und ihnen zeigen, dass sie mehr war, als nur ein graues Mäuschen.
Doch Liv sagte nichts.

Auch an diesem Morgen wartete sie auf ihre Freunde, die an ihr vorbei gingen und sie hinter sich her gehen ließen.
Auch heute hatte sie ihren Blick auf den Boden gerichtet.
Für sie gab es längst keine Wunder mehr, die sich ihr zeigten, wenn sie in die Schule ging. Sie waren verschwunden, als ihre Eltern begannen zu telefonieren und ihre Freunde aufhörten mit ihr zu lachen.
Liv hatte verzweifelt nach ihnen gesucht und das hatte sie verschwinden lassen. Liv sah nicht mehr in Allem eine Geschichte, ein Abenteuer, ein Wunder. Dafür war sie mit den falschen Leuten zusammen.
Doch Liv sagte nichts.

Sie kamen am Klassenraum an. Wie immer waren sie zu spät. Liv wurde wütend. Nur, weil ihre Freunde so viel redeten und trödelten, kam auch sie zu spät.
Es war einfach nicht fair. Liv öffnete den Mund. Sie wollte etwas sagen, doch als sie sich zu ihren Freunden drehte, stieg Nervosität in ihr auf und sie verschluckte sich an den Worten, die sie hatte sagen wollen. Liv sagte nichts.

Sie betraten das Klassenzimmer mit einer miesen Ausrede, die Livs Freunde sich ausdachten. Liv schaltete ab, als ihre Lehrerin zu einer Strafpredigt ansetzte. Sie sah die Klasse spöttisch grinsen.
Nur einer sah sie mitleidsvoll an. Liv dachte er sähe ihre Freunde an, doch bei genauerem Betrachten sah er zu ihr.
Sein Name war Elias.
Er fing ihren Blick auf und lächelte sie an. Livs Mundwinkel zuckten und sie lächelte.
Zusammen mit ihren Freunden setzte sie sich auf ihren gewöhnlichen Platz. Ganz hinten am Ende der Reihe.
Die Lehrerin kontrollierte die Hausaufgaben. Ihre Freunde hatten sie nicht und schrieben so gut es ging von Liv ab.

Wie gerne hätte Liv sie angeschrien. Ihnen gesagt, dass sie das lassen sollten. Dass Liv mehr wae, als nur das Mädchen, bei dem man die Hausaufgaben abschrieb. Mehr, als die langweilige Streberin. Mehr, als nur die schweigsame Bekannte.
Wie immer bekamen ihre Freunde eine gute Note für Livs Verdienste.
Wie immer bedankten sie sich nicht einmal bei ihr.
Wie immer war sie wütend.
Wie immer wollte sie etwas sagen.
Doch Liv sagte nichts.

Der Morgen fing an wie jeder Andere. Wie jeder andere dunkle Morgen.

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