Kapitel 4: Lights Above I ♫

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KAPITEL 4: LIGHTS ABOVE I

»Leg deine Fingerkuppen darauf. Nein, nicht so, schau her. Du schlägst gegen die anderen Saiten!«

Strenge Ermahnungen schwängerten diesen verschneiten Dezembervorabend.

»Sie müssen mich nicht so anschreien, ich sitze neben Ihnen, Mr. Jonathan«, sagte Lenia und winkelte ihre in Kuschelsocken gehüllten Beine an.

Jonathan Benson tippte ruppig von unten gegen ihren Ellenbogen. »Häng nicht durch, Lenia. Seit wie vielen Wochen üben wir nun schon? Konzentrier dich.«

»Sie verstehen es wirklich, anderen Mut zu machen«, merkte Lenia ironisch an, schlang die warme Decke enger um ihren Oberkörper und gähnte.

Der am Morgen anfängliche Schneefall war zu einem wahren Schneefeuerwerk geworden. Seit Stunden rieselte das weiße Pulver vom Himmel, als hätte sich jemand dort oben jahrelang einen nicht enden wollenden Vorrat aufgespart, der jetzt innerhalb eines Tages in die Welt entlassen werden musste. Hätte Lenia in diesem Moment einen Spaziergang durch unbefahrenes Gebiet gemacht, wäre sie mindestens bis zu den Knien im Schnee versunken.

Jonathan Benson stellte seufzend seine Gitarre zur Seite. »Machen wir Schluss für heute. Wir haben eine Stunde mehr geübt als geplant und deine Konzentration lässt inzwischen zu wünschen übrig.«

»Meine Eltern sind noch nicht zurück«, überlegte Lenia laut und schaute besorgt aus dem Fenster in ihrem Wohnzimmer, während sie sich an einer frisch aufgebrühten Tasse Tee wärmte.

Jonathan räumte gemächlich seine Sachen zusammen. »Sie werden sich sicherlich gleich melden.«

»Hoffentlich«, flüsterte Lenia und drückte ihre Nase gegen die Scheibe. »Ich habe seit Jahren keinen so extremen Schneefall erlebt.«

»Ja, nervig, nicht wahr?«

»Nein«, sagte sie. »Wunderschön.«

Jonathan runzelte die Stirn. »Ich wüsste nicht, was an Verkehrschaos und rutschigen, aalglatten Straßen wunderschön sein soll.«

»Kommen Sie, Jonathan, erinnert Sie das nicht auch an Ihre Kindheit?«

Er wandte sich von Lenia ab und packte seine Gitarre in den Koffer, von dem allmählich der Belag blätterte. »Nein.«

»An Schneeballschlachten, Schneeengel auf den Boden malen, Schneemänner bauen?« Lenia formte eine unsichtbare Kugel mit ihren Händen.

»Nein«, wiederholte Jonathan distanziert und klappte die Laschen des Kofferverschlusses um.

»Sie wollen sich nicht daran erinnern, oder?«

»Nein.«

»Hm.« Lenia leerte ihre Teetasse in einem Zug und stellte sie neben der vollen Kanne ab. Der markante Zimtduft verteilte sich in einer qualmenden Rauchwolke über die Küche und den offenen Wohnraum. »Was halten Sie davon, wenn wir ein wenig improvisieren«, schlug Lenia vor und setzte sich an den eleganten Flügel. »Sie an Ihrer Gitarre und ich an meinem Klavier. Jeder in seinem Element.«

Jonathan sah kritisch auf seine Uhr.

»Vergessen Sie ein einziges Mal Ihre Zeit, Jonathan«, bat Lenia und pochte auf den Stuhl neben ihrem Klavierhocker, den er hatte stehen lassen. »Lassen Sie uns musizieren. Ohne Noten, Plan oder Unterricht, einfach spontan aus dem Bauch heraus. Dabei entstehen die tollsten Ideen.« Sie zwinkerte verschwörerisch.

»Ach, ist das so, ja?«

»Ja.« Sie klopfte abermals auf das Polster.

Unter protestierendem Murren kam er ihrer Einladung nach, griff sich Lenias geliehene Gitarre, weil er zu faul war, seine eigene erneut aus dem Koffer hervorzukramen, und stimmte elanlos einen C-Dur-, D-Dur- und E-Dur-Akkord an. Plötzlich hielt er inne.

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