1- "Was willst du tun? Ihre Balkonpflanzen austrocknen lassen?"

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„[...] Das MVeT- Gen (Magische Verstärkung einzelner Talente) ist eine Mutation, die sich recht selten vererbt. [...] Träger dieser Anlagen sind in keinem Fall mit richtigen Menschen zu verwechseln! Sie sind bösartig und eine Gefahr für jeden Bürger des Landes. Wer ihnen begegnet, sollte sofort die Behörden verständigen oder als Mithelfer und Aufrührer neben ihnen hingerichtet werden. [...]"

(Aufruf des Maurel Caios, 2. Hof- Medikus im 80. Jahr von Kaelchon)

✥✥✥

          Das Wasser des Springbrunnens stieg in schwerelosen Tropfen gen Himmel und ich war der Grund dafür.
Die versammelten Bürger waren so still, dass ich die Erdgnome unter den Pflastersteinen des Marktplatzes schnarchen hörte. Die Leute starrten mich an, wie eines dieser besonderen Kinder. Teilweise weil ich eines war, teilweise, weil ich auf dem Kopf der steinernen Meerjungfrau inmitten eines Brunnens saß.

„Ich würde vorschlagen, ihr gebt sie wieder zurück", schlug ich vor, bemüht, um einen höflichen Tonfall. Fünf Jahre hatte ich unter ihnen gelebt. Einige von ihnen erkannten mich sogar. Dieb. Bettler. Straßenkind. Sie wussten es nicht besser. Ich hatte sie trotzdem gemocht. Sie waren schließlich mein Zuhause gewesen. Aber heute waren sie zu weit gegangen.

Neben mir stieg ein winziger Fisch in einer Wasserblase in die Luft. Er war der einzige Bewohner des Brunnens. Ein unschuldiger Zuschauer. Schnell, bevor es jemand bemerkte, griff ich ihn und drückte ihn zurück ins Wasser. Keine Toten.

„Wir haben sie nicht!" Ein älterer Mann schob sich zwischen den Versammelten nach vorne, eine Mistgabel drohend auf meinen improvisierten Thron gerichtet. Die beißende Sonne des Südens hatte ihre Initialen in seine Haut geritzt. Tiefe Falten und schlecht verheilte Narben. Ein weniger schönes Spiegelbild der anderen Gesichter, die zu mir hoch starrten.

Ich legte den Kopf schief. Diese Mistgabel war nicht zum Ernten da. Niemand sollte in die Tage gekommenen Männern trauen, die heimlich Mistgabeln in einer Stadt horteten.
„Merkwürdig. Dann hat meine kleine Schwester die Tür zu unserem Versteck eingetreten?", ich runzelte die Stirn, „Von außen?" Der Humor in meiner Stimme überlagerte die Panik, die es mir unmöglich machte, das Wasser an seinem merkwürdigen Verhalten zu hindern.

Unter mir berieten sich die Bewohner, wie sie mich am besten festnahmen. Ihr Gemurmel schwappte gegen meinen Brunnen, während im Hintergrund zwei weitere Gestalten sich zu der Menge gesellte. Die Bürgerinnen und Bürger wichen ihnen aus, ohne sie zu bemerken oder anzusehen.

Ich richtete mich ein Stück auf.
„Sie ist noch ein Kind! Wie konntet ihr nur? Ein kleines Mädchen ausliefern und nachts ruhig in euren Betten schlafen!" Meine Stimme brach bei dem Gedanken an die Angst, die sie verspüren musste. Sie ließ die Wassertropfen um mich herum wie Geschosse hoch zu den Wolken fliegen. Garcy war unschuldig. Ein Rehkitz zwischen den Wölfen.
Und ich hatte sie alleine gelassen.
Das verräterische Bündel hing noch immer um meine Schulter. Essen, für mindestens zwei Wochen. Eine Falle, wie mir viel zu spät aufgefallen war.

„Wir können definitiv besser schlafen, wenn wir wissen, dass Missgeburten wie ihr weggesperrt seid!", kreischte eine Frau aus der vierten Reihe. Rote Flecken hatten sich auf ihrer Haut gebildet und ihr Blick brannte Löcher in meine Seele.

Ich blinzelte einmal und dankte stumm den Göttinnen, dass Garcy das nicht gehört hatte. Sie hätte wieder geweint.
Der Fisch erhob sich schon wieder in die Luft und ich tat ihn zurück ins Wasser.

In einer langsamen Bewegung streckte ich meine Beine. Die Frau hatte die freundlichste aller Bezeichnungen gewählt und das rechnete ich ihr hoch an.
„Nun, zu deinem außergewöhnlichen Pech, bin ich noch nicht weggesperrt." Der Schritt ins Leere ließ die Wassertropfen hinter mir wie Ziegelsteine aus dem Himmel fallen. Ein Trommelwirbel für meinen Sprung direkt vor die Mistgabel.

Jagd der Nebelflüsterer- Die VogelfängerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt