Die Fahrt

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Die Sonne war gerade erst am Aufgehen, als der Bus mit den Schülern vom Parkplatz auf die Straße fuhr. Dementsprechend war auch die Stimmung: Sie alle gähnten fast ununterbrochen und die meisten beschlossen den Versuch zu starten, während der Fahrt noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.
Ähnlich erging es Carlos und obwohl er anfangs dagegen ankämpfte, fielen ihm bald die Augen zu.

Ein lautes Piepen war zu hören. Von einer Sekunde auf die andere erfüllte ein lebhaftes Gemurmel den Bus, ausgelöst vom Erwachen der Schülerschaft.
„Wenn ich einmal kurz Ihre Aufmerksamkeit haben könnte“, dröhnte die Stimme einer der Lehrerkräfte viel zu laut aus den Lautsprechern an der Decke.
Carlos, der erst in der Hoffnung, noch etwas weiterschlafen zu können, die Augen geschlossen gelassen hatte, öffnete sie nun doch genervt. Immer noch verdammt müde streckte er sich und bemerkte, woran er sich die ganze Zeit gekuschelt hatte. Er sah nach oben und blickte in die Augen des ihn verschlafen anblinzelnden Prinzen.
Sofort wurden die Wangen des Jungen knallrot und er setzte sich schnell wieder gerade hin. Dabei fiel ihm allerdings der riesige Sabberfleck auf Bens Hemd auf. Genau da, wo Carlos’ Kopf gerade gelegen hatte. Schnell kramte der Weißhaarige in seiner Hosentasche und hatte schon bald gefunden, wonach er suchte. Bevor der andere überhaupt realisieren konnte, was passiert war, drückte Carlos ein Taschentuch auf den Fleck und als sich ihr Blicke trafen, wurde er noch ein kleines Fünkchen röter.
„Sorry“, murmelte er verlegen.
„Ach, ist doch kein Probl…“

„Also wenn Sie sich dann mal alle beruhigen könnten.“
Reflexartig überdeckte Carlos beide Ohren mit seinen Händen um sie vor der lauten Stimme zu schützen.
„Wir erreichen in Kürze eine Raststätte an der wir halten werden. Es ist die letzte Möglichkeit auf Toilette zu gehen, also nutzten Sie sie. Danach ist es nicht mehr weit bis zum Anfang des Märchenwaldes. Wir gehen davon aus Sie alle kennen die Regeln und Vorschriften für unseren Aufenthalt dort. Dennoch verteilen wir jetzt nochmal einen Flyer mit den wichtigsten Informationen.“
Ein weiterer Lehrer begann durch die Reihen zu gehen und jedem der Schüler und Schülerinnen einen Zettel in die Hand zu drücken.

„Regeln? Sowas wie keinen Müll rumliegen lassen oder was?“, fragte Carlos den Prinzen.
Dieser sah ihn erst etwas verwirrt an, bis ihm ein Licht aufzugehen schien.
„Stimmt, ihr könnt das ja gar nicht wissen. Der Märchenwald wird schließlich in den unteren Jahrgangsstufen thematisiert."
„Also es ist so“, begann er zu erklären, „der Wald ist das einzige Stück Land, das noch voller Zauberei und magischer Wesen ist. Selbst meine Eltern und ich haben kaum Macht oder Kontrolle über ihn geschweige denn seine Bewohner.“
„Na das klingt ja nach einem tollen Klassenfahrtziel. Sicher dass die uns nicht einfach alle loswerden wollen?“
Ben lachte. „Dafür sind die Regeln da. Sie garantieren unsere Sicherheit und die der Waldlebewesen. Wenn du willst, gehe ich den Flyer mit dir durch und erkläre dir alles wichtige.“
„Okay, danke. Besser ist’s.“
Der Lehrer war nun auch bei ihnen angekommen, doch gerade als sie ihre Zettel hatten und Ben loslegen wollte, bog der Bus links auf den Parkplatz einer kleinen Raststätte ab. Er kam zum Stehen und sogleich sprangen die Türen auf. Ohne zu warten stürmten einige der Schüler los und ein riesiges Chaos brach aus.
„Seien Sie bitte in spätestens zwanzig Minuten zurück“, versuchte der Lehrer am Mikrofon auf sich aufmerksam zu machen, aber scheiterte kläglich, da selbst die Lautsprecher nicht gegen die lauten Stimmen der nach draußen rennenden Mädchen und  Jungen ankamen.

Die beiden Jungen verließen als einige der letzten das Fahrzeug, die Zettel immer noch in der Hand.
„Vielleicht können wir uns irgendwohin setzten und ich erkläre dir alles. Oder wolltest du noch auf Toilette oder dir etwas kaufen?“, führte der Prinz ihr Gespräch auf dem Weg nach draußen fort.
„Eigentlich nicht. Da hinten sind Bänke. Wollen wir uns da hinsetzen?“
Bevor Ben etwas antworten konnte, wurde er von dem schon auf sie wartenden Jay unterbrochen. „Hey, Carlos. Kann ich mal mit dir unter vier Augen reden?“
Überrascht von dem genervten Tonfall seines Gegenübers, erwiderte dieser nur: „Ähhhhhh, na klar. Was gib’s?“
„Unter vier Augen, du Vogel. Komm mit.“ Jay zog Carlos hinter sich her.
„Mal und Evie sind übrigens drinnen im Shop“, fügte er noch an Ben gerichtet hinzu, bevor die beiden hinter dem alten Raststellengebäude verschwanden.
Auf Carlos fragenden Blick hin nahm Jay seinen Rucksack ab und öffnete den Reißverschluss. „Kannst du mir das bitte erklären?“
„Dude, was machst du denn hier?“ Carlos konnte es gar nicht glauben, als der kleine Hund seinen Kopf aus dem Rucksack steckte. „Du dürftest doch eigentlich gar nicht hier sein, es wurde extra betont, dass wir keine Tiere mitnehmen dürfen…“
„Das ist auch der Grund, warum du ihn jetzt nimmst, ich will dafür keinen Ärger bekommen.“

Mit einem Satz sprang Dude in Carlos Arme, der dabei den Zettel mit den Regeln fallen ließ, um den Hund aufzufangen.
„Und wie soll ich ihn jetzt unentdeckt zum Bus kriegen?“
„Dir fällt schon was ein. Ich wollte mir auch noch etwas kaufen gehen, bis gleich“, mit diesen Worten ließ er Carlos stehen und eilte davon.

„So Dude, du wartest jetzt hier, okay?“ Carlos setzte ihn auf dem Boden ab und machte sich schnell auf den Weg zum Bus. Drinnen murmelte er ein „Hab mein Portemonnaie vergessen“ in Richtung der Lehrer und schnappte sich seinen eigenen Rucksack.
Wieder draußen angekommen platzierte er seinen kleinen Freund darin und setzte ihn sich auf den Rücken.
Die meisten Schüler schienen so langsam zurückzukommen und auch Mal und Ben waren unter ihnen. Carlos hängte sich einfach an sie dran und setzte sich schließlich mit dem Prinzen zusammen auf ihre Plätze.

Als auch der letzte sich endlich niedergelassen hatte, fuhren sie weiter.
Ben wante sich Carlos zu. „Okay, wollen wir anfa…“
„Da Sie alle sicherlich nichts Besseres zu tun haben, werden wir Ihnen jetzt das Programm für die folgenden Tage erläutern.“
Ein genervtes Stöhnen ging durch die Reihen.
„Ich glaube, das wird nichts mehr“, sagte Carlos leise zu Ben und verdrehte die Augen.
„Im Anschluss gebe ich zudem die Zimmereinteilung bekannt.“
Sofort begannen alle mit ihren Sitznachbarn und Freunden zu tuscheln.
„Bitte beruhigen Sie sich…“

Die folgenden dreißig Minuten hörten sie sich einen langweiligen Vortrag über Wanderungen und irgendein altes Museum an. Carlos hatte seine Stirn kraftlos an die kalte Glasscheibe gelehnt und sah sich die vorbeiziehende Landschaft an.
Der Lehrer wurde von einer Schülerin aus der zweiten Reihe unterbrochen, die aufgeregt aus dem vorderen Fenster deutete. „Hey, seht mal!“
Nicht weit vor ihnen ragte in Mitte der flachen Wiesen wie aus dem Nichts ein dichter riesiger Wald auf. Er schien sich schier endlos zu erstrecken und war von einem kleinen hölzernen Zaun umgeben.
Carlos sah den Prinzen überrascht an. „Meintest du nicht, der Wald wäre gefährlich? Und dann nur so ein klappriger Zaun?“
„Ja, da hast du schon Recht“, gab dieser zu. „Aber die Einwohner haben bis jetzt nie wirklich Interesse daran gezeigt ihn zu verlassen. Außerdem ist er von einem Schutzzauber umgeben. Keiner, der böse Absichten hegt, kann ihn verlassen.“
„Na wenn du meinst.“

Jubelnd fuhren sie durch ein großes Tor und ein merkwürdiges Kribbeln durchfuhr sie alle. Endlich waren sie im Märchenwald!

Klassenfahrt in den MärchenwaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt