Kapitel 2

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Er ist weg und ich sitze wieder hier. Ich starre auf meine Handgelenke, die von den rostigen Handschellen aufgeschürft sind. Es brennt unheimlich. Genau wie meine Wange.
Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich kann kaum einen Schritt laufen, die Ketten an meinen Fußgelenken sind zu kurz.
Ich habe das Gefühl, leer zu sein. Ich kann nicht mehr weinen. Ich bin mir meiner Situation nur all zu sehr bewusst. Ich würde von diesem Mann, höchstwahrscheinlich jedenfalls von ihm, überwältigt, hier her gebracht und bin hierangekettet. Entführt. Ein Wort, das ich bisher nur aus den Nachrichten kannte. Und jetzt erlebe ich das Wort selbst. 
Ich denke an meine Eltern. Ich glaube, sie machen sich Sorgen.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich von dem Chloroform betäubt gewesen war, ich weiß auch nicht, wie lange ich hier schon sitze.
Ich setze mich anders hin.
Ich muss versuchen  zu überlegen, wie lange ich schon hier bin. Das ist alles eine Sache der Kombination.
Fast schon panisch klammere ich mich an diesen Strohhalm den ich mir selber gebastelt habe. Wenn ich nur richtig kombiniere und schätze, dann kann ich vielleicht ausrechnen, wenn achtundvierzig Stunden vorbei sind. Die Polizei nimmt erst nach achtundvierzig Stunden Vermisstenanzeigen auf. Ich schätze meine Eltern so ein, dass sie ein aufgeben würden.
Ich bin froh, mich mit etwas ablenken zu können, was mich von dem Gedanken abbringt, wann Dale das nächste Mal diesen Raum betreten wird. Und aus welchem Grund er es tun wird.
Ich hatte einmal gelesen, dass Chloroform bei richtiger und einmaliger Verwendung bis zu zwanzig Minuten plus außer Gefecht setzen kann. Es könnten auch dreißig sein. Aber ich weiß nicht mal genau, ob es wirklich Chloroform war.
Beim angestrengten Nachdenken fange ich an, mit meinen Händen an den Ketten an meinen Fußschellen rumzuspielen. Das rostige Gefühl nehme ich kaum war.
Gehen wir davon aus, es war Chloroform. Vielleicht hat er mich nur einmal betäubt, dann konnte ich sagen, ich war vielleicht zwanzig Minuten weg. Vielleicht auch länger. Runden wir auf dreißig auf. Dreißig ungefähr. Das heißt, Dale, oder wer auch immer es war, hat mich zu einem Haus gebracht. Ich schätze dass hier ist ein Haus. Ich glaube nicht, dass es ein Schutzbunker ist.
Mein Blick huscht zu dem Fenster über mir, dann wieder auf meine Finger, die mit der Kette spielen.
Ein Schutzbunker hat keine Fenster. Es ist ein Haus. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Haus.
Wie hat er mich hierhin gebracht? Er wird mich nicht einfach getragen haben. Er könnte mich mit einem Auto gefahren haben. Das ist die wahrscheinlichste Möglichkeit.
Habe ich Autos gesehen, als ich meinen Weg gegangen bin? Autos, die an der Straße geparkt haben?
Wenn er mich mit dem Auto gefahren hat, wird er wahrscheinlich keinen zu langen Weg gelaufen sein, uns hätte jemand sehen können.
Ich schließe die Augen und denke angestrengt nach. Habe ich ein Auto gesehen? Hätte das Auto auch in der Gasse sein können, in die er mich gezogen hat? Ich öffne sie wieder.
Nein, ich kenne die Gasse, sie ist zu schmal für ein Auto. Ein Motorrad hätte gepasst. Aber ich glaube nicht, dass er mich auf einem Motorrad gefahren hat.
Vielleicht war sein Auto hinter einer Straßenecke oder auf der anderen Straßenseite gewesen. Sein Weg wäre nicht zu lange gewesen.
Ich gehe davon aus, sein Auto war auf der anderen Straßenseite und ich habe es nicht gesehen.
Er hat mich zu diesem Haus gefahren. Ich weiß nicht wo das Haus ist. Aber er ist gefahren. Wie schnell ist er gefahren? Es ist sehr dunkel und neblig gewesen. Vielleicht ist er nicht zu schnell gefahren. Manchmal war es in unserem Städtchen nebelig, ab der Landstraße war es schon besser, die Straße war eben und grade. Dort konnte man schneller fahren. Es gab eine Geschwindigkeitsbegrenzung. An die wird er sich in der Stadt, aber nicht auf der Landstraße gehalten haben. Er wird sich beeilt haben, wenn er mich nur einmal betäubt hat.
Er kann mich nur einmal betäubt haben. Ich müsste sonst zwischendurch wachgeworden sein.
Ja, er hat sich beeilt.
Die Ketten rasseln und der Rost fällt in feinen Blättern von den Scharnieren und den Fesseln.
Im nächsten Ort ist man, wenn man achtzig fährt, nach zwanzig Minuten. Gehe ich jedoch davon aus, dass er hundert oder vielleicht sogar hundertzehn gefahren ist, vielleicht eher hundertzehn, schneller wollte er nicht fahren, es muss noch neblig gewesen sein, dann wäre er …
Ich rechnete und knibbelte mit meinen Fingernägeln an dem Rost an den Fußschellen.
Es wären vielleicht ungefähr fünfzehn Minuten, die er gefahren ist. Bis zur nächsten Stadt waren es, ich würde schätzen, grobe sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Kilometer. Fünfzehn Minuten könnten hinkommen. Sofern kein Verkehr war. Normalerweise ist bei diesem Wetter und zu dieser Uhrzeit kein Verkehr.
Meine Stadt ist eine kleine Hafenstadt, an der nicht viel passiert. Diese Landstraße war zwar die einzige Straße die zu uns führt, aber die meisten arbeiten im Ort.
Es war kein Verkehr.
Ich öffne wieder die Augen und sehe, wie viel Rost schon abgeblättert ist.
Im Ort ist er vielleicht dreißig gefahren. Aber unser Ort ist nicht groß. Bis zur Landstraße brauchte er in dem Tempo vielleicht drei Minuten. Damit wären um die achtzehn Minuten für das Fahren draufgegangen.
Ich spüre, wie ich ruhiger werde. Wenn es einen Sinn ergibt und ich einen Anhaltspunkt habe, wird es schon bald mehr Anhaltspunkte geben. Dale hat vielleicht einen Fehler gemacht. Er fällt mir auf, ich nutze ihn aus. Vielleicht komme ich hier weg.
Er hat mich in diesem Keller getragen. Wenn das hier ein normales Haus ist, dann wird er nicht zu lange dafür gebraucht haben. Der Keller liegt noch an der Oberfläche. Der Weg hat ihn vielleicht zwei Minuten gekostet, inklusive mich aus dem Auto hieven. Ich war dann noch vielleicht zehn Minuten bewusstlos, dann bin ich aufgewacht. Ich habe meinen Raum inspiziert, habe versucht die Ketten loszureißen, habe um Hilfe gerufen. Vier Minuten. Ich habe-
Ein Wind pfeift an meinem Ohr vorbei und klingt gespenstisch. Ich erschauere und drücke mich noch mehr gegen die Wand.
Er kam rein, hat mit mir geredet, mich … er hat mich zweimal geschlagen, ist gegangen. Sechs Minuten. Ich habe geweint, mich beruhigt, habe weiter meinen Raum inspiziert. Zehn bis fünfzehn Minuten. Eine gute Mitte wären dreizehn Minuten. Also dreizehn Minuten. Dreizehn Minuten.
Ich habe über alles nachgedacht. Zehn Minuten. Plus die Rechnung. Zwei Minuten. Machen zusammen.
Ich rechne kurz. Eine Minute.
Sechsundsechzig Minuten seit er mich überwältigt hat.
Als ich vom Turnen an der Bushaltestelle angekommen bin, war es halb neun. Ich bin noch eine halbe Stunde spaziert, das weiß ich, weil kurz vor Dales Überraschung hat die Kirchenturmuhr neun Mal geschlagen. Normalerweise wäre ich, wenn ich den langen Weg spaziert wäre, noch zwanzig Minuten gegangen, dann wäre ich zu Hause gewesen.
Bei dem Gedanken an mein Zuhause und meine Eltern zog sich mir der Magen zusammen.
Ich versuchte wieder klar zu denken.
Das heißt, es wäre jetzt um die sechsundvierzig Minuten her, seit ich zuhause hätte ankommen sollen. Somit war es vielleicht sieben Minuten nach zehn, sollte man die eine Minute noch mit einbeziehen, die ich noch gegangen war, bis Dale mich überwältigt hatte.
Meine Mutter würde sich wahrscheinlich jetzt schon Sorgen machen. Sie hatte mich vielleicht auf meinem Handy angerufen.
Ich taste nach meiner Hosentasche. Natürlich war es nicht da. Dale hatte es mir wahrscheinlich abgenommen, die Karte rausgenommen, es vielleicht sogar ganz kaputt gemacht. Aber mein Handy machte mir weniger Sorgen.
Meine Mutter ist wahrscheinlich grade beunruhigt, dass ich nicht dran gehe und bei dem Nebel draußen und bei der Uhrzeit im Dunkeln-
Mein Blick fliegt zum Fenster, ich rücke etwas von der Wand ab und sehe raus. Bingo, es ist stockfinster. Es ist also noch nachts. Ich freue mich, dass ich vielleicht sogar Recht habe mit meiner Theorie. Ich könnte Dale überlisten.
Sie wird morgen zur Polizei gehen. Die werden ihr sagen, dass Vermisstenanzeigen erst nach achtundvierzig Stunden aufgenommen werden und ihr nochmal klar machen, dass eine Achtzehnjährige  vielleicht auch mal länger wegbleibt. Sie ist seie Erwachsen und die Eltern sollten es bitte verstehen.
Ich atme durch und schaue auf den kleinen Haufen Rostblättchen und meiner rechten Fußschelle. Wie merke ich mir, wie viel Uhr es ist?
Ich starre auf das Häufchen von Rostblättern.
Ich fange an, immer ein kleineres Häufchen für vergangene zehn Minuten nebeneinander zu legen. Spätestens an dem Sonnenaufgang könnte ich mich orientieren. Es ist dann immer ungefähr neun Uhr.
Wenn es jetzt sieben, vielleicht jetzt sogar zehn nach Zehn war, müsste ich relativ lange wachbleiben und alle Häufchen immer dann anordnen, wenn zehn Minuten vergangen  waren. Doch ich bin müde und erschöpft. Vielleicht würde ich den Sonnenaufgang mitbekommen, vielleicht würde ich sogar noch vorher aufwachen.
Ich sollte mich hinlegen. Ich weiß schließlich nicht, wann ich das nächste Mal ein bisschen Ruhe finden werde. 

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 04, 2014 ⏰

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