4. Verlässt Die Heimat Und Den Tag

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Die kühle Morgenluft schlug mir entgegen, als ich das Haus verließ. Es war noch nicht spät, die Sonne war gerade erst aufgegangen und die Kälte der letzten Nacht lag noch in der Luft. Auch konnte ich den Nebel noch erkennen.
Ich zog die Jacke enger an meinen Körper. Eigentlich war die Jacke gar nicht für diese Jahreszeit gedacht, aber ich trug die Jacke nicht um mich warmzuhalten. Zumindest nicht nur. Denn diese einfache dunkle Strickjacke war ein Geschenk von ihm gewesen. Also musste ich diese Jacke nunmal nehmen, denn an irgendwas musste ich mich klammern. Irgendeine Eiche brauchte ich in dieser dunklen Zeit, irgendein warmes Feuer.
Ich sah mich kurz um, ging dann nach links. Es war noch nicht viel los, einige Menschen liefen schon so früh durch die Gegend. Dabei waren sie nicht die verlorenen Seelen, sondern hatten ihr Leben fest in ihrer Hand. Anders als ich hatten sie gerade andere Probleme.
Immer noch überlegte ich, wo ich nun hingehen sollte. Zu Erik wäre meine Idee gewesen, doch wusste ich nicht, ob er überhaupt da war. Seit ich mit Kevin zusammen war, hatte ich weniger Kontakt zu Erik. Zwar sprach man sich ab und zu über Discord, schrieb ab und an mal eine Whatsapp-Nachricht. Aber ich sah ihn sehr selten, wusste immer weniger über ihn. Unsere Pläne gingen gerade in andere Richtungen - aber wir waren doch immer noch Freunde. Oder? Ich hoffte es, denn ich wollte so jemanden wie Erik nicht verlieren. Nicht umsonst waren wir so lange schon Freunde gewesen, das macht nicht mal eben Zeit der Kontaktpause kaputt. Hoffentlich nicht.

Ich lief immer weiter in die Stadt. Erik wohnte nicht so weit weg von mir, dennoch brauchte man zu Fuß seine Zeit. Stören tat mich dies allerdings nicht, denn so konnte ich meine Gedanken ordnen. Dieser einfache Streit hatte mich so aus meiner gewohnten Bahn geworfen - ich wusste nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Dabei war es nur ein Streit, mehr nicht. Ich hasste mich manchmal selbst dafür, dass ich mit Diskrepanzen so schlecht umgehen konnte. Ich suchte im Umgang mit Menschen meist den einfachsten Weg, sagte lieber gar nichts als zu enttäuschen und mischte mich selten in Dinge ein, die mich nichts angingen. Aber ich konnte nicht vor einem Streit weglaufen, an dem ich selbst schuld war. Ich konnte vor nichts fliehen, was ich selbst erschaffen hatte. Das wäre so, als würde ich vor meinem Schatten wegrennen wollen, doch ich war nunmal nicht Lucky Luke, ich konnte nicht schneller als mein Schatten sein.
Als Unheilbringer musste ich nun die Sache auch wieder geradebiegen, auch wenn ich noch nicht genau wusste wie. Bei Erik wollte ich nachdenken. Vielleicht konnte er helfen, wie schon so oft in vergangenen Tagen.

Es dauerte nicht lange, bis ich in die richtige Straße bog. Das Haus erkannte ich von Weitem, denn es wurde vor Jahren mal mit Graffiti besprüht. Auf der Westseite des Hause prangte einem nun schon ewig ein schwarzer Wolf entgegen, der den Mond anheulte. Ich mochte das Bild, es erinnerte mich an den Wolf, der im Inneren hauste.
Kurz bevor ich klingelte, öffnete sich neben mir die Haustür und ein Anzugträger kam hinaus. Ich kannte den Mann, das war der Nachbar von Erik. Erik meinte immer, dass er voll korrekt ist, doch konnte ich das nicht so richtig glauben. Nämlich immer, wenn er an mir vorbeilief, dann sah er mich so abwertend, fast schon urteilend an. Der Kerl war mir so suspekt und fremd, dass mein Kopf sich weigerte, sich seinen Namen zu merken. Immer wenn ich diesen Typen also sah, überlegte ich, wie er denn nochmal hieß.
Zumindest war er mir jetzt einmal von Nutzen, denn er öffnete mir die Haustür, sodass ich ins Haus kam. Ohne mir den Anzugträger also nochmal anzusehen, ging ich in das Gebäude und fand mich im recht warmen Treppenhaus wieder. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich dann doch mit der dünnen Jacke gefroren hatte und fühlte nun ganz gut, wie das Blut sich in meinen Fingern erwärmte.

Hier drin sah es weitaus moderner aus, als man es erwarten würde. Schließlich war das hier eigentlich ein Altbau. Doch das Treppenhaus war sehr sauber und alles sah recht neu aus. Erik meinte mal, dass es hier einen Bruch in den Wasserleitungen gab und recht viel unter Wasser stand. Daraufhin wurde das hier alles renoviert. Und obwohl das passiert ist, gab es hier immernoch keinen Aufzug, sodass ich bis ins dritte Obergeschoss laufen musste. Ich war nicht in Eile oder so, trotzdem rannte ich die Stufen hoch. Ich wollte schnell zu Erik, ich brauchte Kraft, die er mir als Freund immer geben konnte.
Ich rang nach Luft, als ich bei Erik vor der Wohnungstür stand. So schnell war ich selten gelaufen. Aufjedenfall musste ich jetzt nur noch klingeln... Ich traute mich nur nicht. Ich kam mir vor, wie der größte Angsthase auf dem Planeten. Dass ich es nichtmal schaffe, bei Erik zu klingeln, dachte ich und fuhr mir mit einer Hand durch mein Gesicht. Es war einfach nur mehr als ein Feiglingsmove für mich.
Nach einigen Minuten, wo ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle bekam, klingelte ich dann doch. Obwohl mein Herz bis zum Halse schlug und ich mir schon die schlimmsten Szenarien ausmalte. Schließlich hatte ich ihm nichts gesagt, unser Kontakt war schon seit geraumer Zeit eingefroren und ich hatte nichtmal unten geklingelt, würde ihn auch noch mehr überraschen. In meiner Vorstellung würde er mir die Tür aufmachen, mich sehen, zu einem Graug mutieren und mich dann in der Luft zerreißen. Eigentlich hatte ich genau darauf keine Lust, doch die Flucht war nun vorbei; nun gab es kein zurück mehr.

Die Zeit verstrich immer weiter und Erik machte mir nicht auf. Zur Sicherheit klingelte ich noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal.
Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, wurde mir die Tür geöffnet. Vor mir stand ein Erik, der gerade erst aufgestanden zu sein schien. Er stand vor mir, sah mehr als müde aus. Doch als er erkannte, dass ich da vor ihm stand, weiteten sich seine Augen und er erschreckte kurz.
"Tobi?",fragte er. Seine Stimme klang rau und tief, als wäre er wirklich gerade aufgestanden,"Was zur Hölle machst du hier?"
"Es ist... also... ähm...",druckste ich herum und seufzte dann, unterbrach mich dann selbst.
"Gestern ist etwas vorgefallen. Darf ich einige Zeit bei dir unterkommen?"
Ich redete nicht weiter drum herum, nannte das Kind direkt beim Namen und schmiss es ihm vor die Füße.
Nachdem er einige Zeit schwieg, rechnete ich schon mit der Absage.
"Weißt du was? Vergiss es einfach",sprach ich nach zu langem Schweigen und drehte mich um, wollte gehen. Doch er hielt mich fest.
"Natürlich darfst du bleiben.",sagte er mit ruhiger Stimme,"Dafür sind doch Freunde da."

Was ist, wenn wir streiten...?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt