6. Ich hab nie verstanden, wie ist das passiert?

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Ich hatte mit Vielem gerechnet. Ich hatte mit Vorwürfen gerechnet, mit Wut, mit Trauer, mit Mitgefühl. Mit einem Plan, welcher mir weiterhelfen konnte. Mit einem warmen Wort, das mit Trost spenden sollte. Mit irgendwas, selbst wenn er mich ausgelacht hätte und dann die versteckte Kameras rausgeholt hätte und mein dummes Gesicht und die Geschichte mit noch ewig nachgetragen hätte.
Doch Erik sagte gar nichts, sah mich nur mit weit aufgerissenen Augen an. Ich wusste nicht, was er dachte, konnte ihn gar nicht einschätzen. Dabei konnte ich das sonst immer ganz gut.
"Was hast du getan?",sprach er und ich hörte, wie seine Stimme leicht zitterte,"Wie konntest du nur... also..."
Er brachte den Satz nicht zu ende. Ohne Vorwarnung umarmte er mich, klammerte sich an mich. Ich wusste gar nicht, was plötzlich los war. Schließlich hatte ich doch eigentlich das Problem.
"Du bringst das wieder in Ordnung",sagte er ruhig und plötzlich war die komplette Unsicherheit aus seiner Stimme verbannt,"und wenn ich dich dazu zwingen muss."
"Ich kann nicht zurückkehren",antwortete ich leise und löste mich von ihm , um ihm ins Gesicht sehen zu können,"Ich kann es einfach nicht."
"Warum nicht?",fragte er ohne zu zögern,"Was hält dich zurück?"
Ich zuckte mit den Schultern, wusste keine gescheite Antwort. Wie denn auch? Manchmal handelt man halt unüberlegt und kann seine Handlung nicht begründen. So funktioniert das Menschsein nunmal.
"Also kannst du auch zurückgehen",sagte Erik bestimmt. Seine Stimme bot kein Raum für Interpretationen.

"Nein",sagte ich darauf,"Du verstehst das nicht. Ich habe ihn mehr als nur beleidigt. Ich habe ihn einfach nur kleingeredet, ihn zu einem schlechten Menschen gemacht. Dabei bin ich hier der schlechte Mensch, das wissen wir beide. Ich habe diese Mauern, die uns verbanden, eingerissen, nur weil ich ihn nicht verstehen kann. Ich hab alles kaputt gemacht und das weiß ich. Das weiß Kevin auch. Ich habe ihn in diese Schlacht geführt und ihn in den Trümmern verbluten lassen."

"Ich hab eher das Gefühl, dass du das nicht verstehst",antwortete Erik sofort und sah mich nun ernst an,"Wenn du wirklich alles so absolut beendet hast, warum bist du dann nicht direkt ausgezogen? Warum hast du es nicht schon gestern beendet? Warum hat Kevin nicht gestern schon alles beendet? Warum hat er dich mehr oder weniger ziehen lassen? Warum bist du nun so am Boden angekommen, dass nichtmal ich dich wieder auf die Beine ziehen kann?
Ich kann es dir sagen: Weil du ihn liebst. Nur wenn dich jemand liebt, nur dann kann er dich verletzen. Darum ist Kevin auch auf deine Worte, die ja angeblich so schrecklich waren, so wütend geworden und hat dich auch beleidigt. Weil er dich auch liebt. Er wird es nicht beenden, davon gehe ich nicht aus. Er wird dich nicht verlassen, das weißt du. Er wird darauf warten, dass du es tust, weil er es nicht kann. Doch du wirst den ersten Schritt nicht tun, weil du angst hast, etwas falsch zu machen. So lauft ihr nur aneinander vorbei, schaut euch ins Gesicht. Irgendwann verklingt die Wut und der Zorn und wird durch Trauer und Furcht ersetzt. Dann seht ihr beide weg und geht daran zu Grunde.
Also kannst du zurückkehren, du musst es sogar. Weil Kevin diesen Schritt nicht gehen kann."

Ich sah zu Erik, vermutlich so geschockt wie noch nie in meinem Leben. Ich muss den ersten Schritt gehen, weil Kevin ihn nicht gehen wird? Ich verstand es nicht, ich wollte es nicht verstehen. Auch, dass Kevin mir nicht böse war. Wenn man jemandem aufs Übelste beleidigt und dann nichtmal die Eier in der Hose hat, um zu seinem Wort zu stehen, dann ist die Person nicht sauer, wenn sie einen liebt? es wollte einfach nicht in meinen Kopf.
"Unsinn",sagte ich dann also, viel zu leise, um ernstgenommen zu werden. Ich sagte das Erste, was mir in den Sinn kam.
"Ist es das?",stellte Erik die Gegenfrage,"Ist es Unsinn, dass er dich noch nicht angerufen hat, obwohl er vermutlich schon wach ist?"
"Woher willst du wissen, ob er schon wach ist?",fragte ich etwas zu ruppig,"Als ich losging, schlief er noch."
"Hast du noch geschlafen?",fragte er gleich,"Du hast auch nur wenig geschlafen, er wird kaum länger die Augen zu bekommen haben. Wenn er dich hassen würde, dann hätte er bestimmt schon einmal versucht dich zu erreichen. Weil er antworten will und diesen Streit fortsetzen wollen würde. Weil er noch nicht all den Hass losgeworden ist. Er hätte dich mindestens einmal angerufen. Oder mich, weil er sich vermutlich denken kann, dass du hier bist. Er hätte sich gemeldet. Doch das hat er nicht getan, weil er einfach keine Worte für das findet, was da gestern zwischen euch abgelaufen ist. Er wartet auf dich, will das klären, glaub mir. Er hat schon immer auf dich gewartet."
"Wieso sollte er das tun?",fragte ich ungläubig,"Wieso sollte eine Taube auf einen Raben warten?"
Erik kicherte leicht bei meinem kitschigen Vergleich.
"Vielleicht weil die Taube den Raben liebt?",sagte Erik und lächelte leicht,"Vielleicht, weil die Taube den Raben nicht loslassen kann und es auch nicht will? Auch wenn es eine reine, weiße Taube ist und ihr Rabe nun geschwärzt und sich im Sturzflug befindet."
Er umarmte mich nochmal, so vorsichtig wie es nur Freunde können. Ich verstand ihn immernoch nicht wirklich. Nach all dem, was passiert war, ich wollte nicht glauben, dass Kevin mich wieder auffangen würde, wenn wir uns gegenüberstehen. Kevin hatte mich so oft aufgefangen und aufgebaut, ich wusste nicht ob er nun noch die Kraft besaß. Ich hatte ihn so kräftig weggeschoben, so ewig weit weg geschmissen... Ob er je wieder aufstehen und mich ansehen würde?
"Du wirst zurückkehren",wiederholte er,"du wirst zurückgehen, auch wenn ich dich dazu zwingen muss."
"Bitte nicht. Ich kann nicht zurückkehren."
"Ich habe nicht gesagt, dass du heute gehen musst",antwortete Erik,"Ich habe auch nicht gesagt, dass du alleine gehen musst. Niemand kann alleine gegen die ganze Welt ankommen. Und niemand muss das auch, wenn er es nicht möchte. Du bleibst die Nacht hier, wir sehen morgen weiter."

Er sah mich nochmal an und lächelte. Und tatsächlich tat ich es ihm gleich, obwohl mir dazu eigentlich gar nicht zu Mute war. Erik war ein Mensch, der gut mit Worten umgehen konnte, der Inspiration schüren und Hoffnung entflammen. Vielleicht glaubte ich ihm deswegen, weil er eben darum mein Anker - meine Rettung war. Weil er mich aufbauen konnte, so wie kein Anderer. Kevin konnte das auch, doch war das bei Erik immer anders. Denn Erik sagte immer genau das, was ich nicht hören wollte, aber hören musste. Erik traf immer direkt ins Schwarze und immer riss mich zwar ein, doch baute mich so schnell wieder auf, dass keine Narben blieben. Erik war Sicherheit, und diese Sicherheit wollte ich nie wieder missen müssen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 05, 2018 ⏰

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