Die Ersten Zweifel

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Meistens hat er die Augen geschlossen. Er schämt sich für seine Augen. Denn inzwischen schielt er. Der Tumor scheint auf irgendeinen Nerv oder Ähnliches zu drücken, was seine Augen beeinflusst. Er sieht alles ein wenig verschwommen, doch werden seine Handlungen nicht beeinflusst. Es sieht so aus, als würde er in zwei verschiedene Richtungen gucken. Das eine Auge schaut nach vorne, das andere nach links.

Um seinen Kopf trägt er meistens ein Tuch. Auch für seine nicht vorhandenen Haare schämt er sich. Ich habe ihm oft genug gesagt, er müsste sich nicht schämen. Dass ich ihn liebe. Egal wie seine Augen stehen oder er nun Haare hat oder nicht.
Aber es nützt nichts. Er lässt es so.

Außerdem muss Manuel inzwischen mit dem Rollstuhl gefahren werden. Er ist nicht mehr in der Lage alleine zu laufen. Aber auch das finde ich nicht schlimm. Ich mache das gerne. Fahre ihn zu den Orten, die er noch sehen will. Denn die Ärzte wissen es, ich weiß es und Manu weiß es.
Er wird seinen nächsten Geburtstag nicht erleben. Das nächste Weihnachtsfest. Das nächste Jahr.

Bei dem Gedanken wird mein Hals wieder trocken. Die Tränen schießen mir in die Augen, welche ich sofort wegwische. Ich beiße mir auf die Lippe und greife die Tüte, die um mein Handgelenk hängt, etwas fester. Mein Atem zittert und es kostet viel Kraft, jetzt nicht zu weinen.

Die anderen Leute im Fahrstuhl schauen mich komisch an, jedoch ist mir das in diesem Moment vollkommen egal. Und als sie sehen, bei welcher Station ich den Fahrstuhl verlasse, können sie nachvollziehen, warum ich mich so verhalte.

Aus dem Fahrstuhl lehne ich mich direkt gegen die Wand, die mir ein wenig Kälte spendet. Langsam wirken die Kopfschmerztabletten und das Dröhnen in meinem Kopf lässt nach.

Einatmen. Ausatmen.

"Ist alles in Ordnung bei Ihnen?"

Erschrocken drehe ich mich herum und sehe eine kleine Krankenschwester, die mich besorgt mustert.

"Ja, alles in Ordnung. Ich besuche nur jemanden."

Verständnisvoll nickt die Schwester und geht an mir vorbei. Kurz darauf verschwindet sie in einem anderen Zimmer und lässt mich alleine im Flur.

Auch ich gehe auf die Tür zu, die ich inzwischen jeden Tag zu Gesicht bekomme. Und jedes Mal verpasst sie mir einen Schlag in den Magen. Sorgt dafür, dass sich ein unwohles Gefühl in mir ausbreitet. Denn die Gefahr ist groß, dass ich sie öffne und Manuel nicht mehr lebt.

Ich öffne die Tür und schaue vorsichtig in das Zimmer, wo mein Freund sitzt und gerade isst. Erleichtert atme ich aus und betrete das Zimmer. Manu schaut zu mir und lächelt.

"Was isst du?", frage ich und gehe auf das Bett zu.

"Pizza. Die hat meine Mutter mir hier gelassen."

Ich nicke und setze mich auf die Kante des Bettes. Die Tüte lege ich auf Manuels Schoß.

"Was hast du mitgebracht?"

"Das Zeug, was du wolltest. Ein paar neue Handtücher, ein neues T-Shirt und ein neues Tuch für deinen Kopf", erkläre ich und neugierig schaut Manu hinein.

Er holt das Zeug aus der Tüte, verteilt sie auf dem Bett und hält dann die kleinen Packungen in der Hand.

"Was ist das?", möchte er wissen und schaut sich die kleinen Dinger an.

"Sterne. Die, die in der Nacht leuchten."

Leicht verwirrt schaut er mich an.

"Die mache ich gleich an die Decke."

Nun lächelt er und nimmt das Tuch von seinem Kopf. Sofort drückt er mir das Tuch in die Hand, welches ich für ihn mitgebracht habe und dreht sich mit dem Rücken zu mir. Ich verstehe seine stumme Bitte und binde ihm das Tuch um den Kopf.

Sterne - KürbismaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt