Teil48

700 71 42
                                    

Jeremy kannte sich inzwischen recht gut in der Stadt aus und suchte sich erst einmal einen Platz, wo er versuchen konnte, klar zu denken und sein Gefühlschaos zu ordnen. June, ausgerechnet sie, damit hätte er nie gerechnet! Er wollte nicht direkt zurück ins Hotel, wo man ihn nur finden würde, und so bog er um ein paar Ecken, bis er bemerkte, dass ein kleiner Durchgang zum Garten der St. Paul's Church geöffnet war. Hier war er noch nie und der kleine Garten wirkte einladend, also ging er hinein und suchte sich eine Bank bei einem Baum. Er brauchte ein paar Minuten, in denen er nur dasaß, dem Vogelgezwitscher lauschte und zusah, wie der Wind in den Blättern spielte. Dann entschied er, dass es ganz sicher nicht helfen würde, wenn er zum Donmar ging, um Rufus direkt alles zu erzählen. Dort würde die Vorstellung bald beginnen und er wollte nicht noch eine Vorstellung platzen lassen. Er würde eine Nachricht hinterlassen, damit Rufus wüsste, dass er bereits in Hampstead sei und er solle sich deswegen keine Sorgen machen. Dann fiel ihm ein, dass er Peter anrufen müsste oder sogar ein Treffen mit ihm vereinbaren sollte. Bestimmt wüsste sein Manager schon Bescheid, aber es wäre das einzig Richtige, ihm die Situation selbst zu erklären. Also rief er an. Peter war tatsächlich schon informiert. „Was hat dich nur so aufgebracht, dass du vor der Vorstellung einfach herausstürmst?" Das war wohl die naheliegendste Frage. Jeremy versuchte sachlich zu bleiben, während er alles so gut wie möglich erklärte. Es hatte einen heftigen Streit mit June gegeben und er war zu aufgewühlt, um zu singen. Und wenn es möglich sei, dann wolle er die Preisnominierung rückgängig machen. Sie hätten von vornherein ehrlich sein müssen, jetzt sei alles aus dem Ruder geraten. Jeremy ließ aus, dass June ihn mit abfälligen Äußerungen über Rufus und ihre Sexualität zutiefst enttäuscht hatte. Peter reagierte überrascht, jedoch professionell wie immer, versprach sich zu erkundigen und fragte, ob er sonst etwas für ihn tun könnte. „Das ist nett von dir, aber ich weiß gerade nicht, wo mir der Kopf steht."

„Beruhige dich. Wir haben einen Tenor aus dem Chor als Zweitbesetzung. Vielleicht sieht alles in zwei Tagen schon wieder anders aus."

Jeremy wünschte sich, er könnte den Optimismus seines Managers teilen. „Meinst du?"

„Ja. Beruhige dich, fahr' zu deinem Freund und lass mich alles regeln. Ich melde mich, sobald ich etwas weiß."

„Danke dir."

„Keine Ursache."

Jeremy drückte den roten Hörer und schaute wieder nach oben in die Blätter des Baumes. Er fühlte sich noch immer schlecht wegen June und weil er jetzt alle im Stich zu lassen schien. Aber er war sich sicher, das Richtige zu tun. Wenn es keine Preisverleihung mehr gab, dann gab es auch kein Druckmittel mehr. Auf dem Weg zur Straße holte er sich noch eine heiße Schokolade, dann nahm er sich ein Taxi und fuhr nach Hampstead. Er schrieb Rufus eine Nachricht. „Erwarte dich zuhause. Alles ist gut. Dinner gibt's aus Camden. Luv U XXX"

Rufus kam nach der Vorstellung, wie neuerdings immer, schnell in die Garderobe. Auf dem Schminktisch lag sein Handy mit der Nachricht. Da stimmte doch etwas nicht! Wie könnte alles gut sein, wenn Jem nicht seinen geliebten Grimes an diesem Abend sang?!  Rufus zog sich um, entfernte das Bühnen Make-Up mit routinierten Handbewegungen und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Das war schon merkwürdig. Warum hatte Jem seine Vorstellung abgesagt? Okay, da stand auch, es sei alles in Ordnung. Vielleicht hatte Jeremy sich nur auf dem Motorrad oder im Park verkühlt und konnte deshalb nicht singen. Rufus grinste bei dem Gedanken, wie er dafür sorgen würde, dass Jeremy das Bett nicht verließ... Dann schaute er durch ein kleines Fenster zum Hinterhof, um zu sehen, was sich am Bühnenausgang tat. Es war Montag, also war nicht so viel los wie an anderen Tagen. Ein paar seiner Kollegen und Kolleginnen waren schon durch. Er beschloss, es einfach hinter sich zu bringen und schnappte sich seinen Helm. Der war ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass er ganz sicher bald nachhause wollte und normalerweise respektierten seine Fans das. Draußen gab es erst einen kleinen Applaus, als er vor die Tür kam, dann war er auch schon von ein paar Leuten umringt, die unbedingt ein Autogramm oder ein Selfie wollten. Sie waren noch aufgeregt nach der Vorstellung, teilweise auch völlig neben sich - ein Gruppe Mädchen - aber alles in allem sehr freundlich und nett. Rufus beantwortete ein paar Fragen und schrieb seinen Namen ungefähr dreidutzendmal auf alles Mögliche von Eintrittskarten und Programmheften bis zu Gipsverbänden und T-Shirts. Er blinzelte in die Blitzlichter der Handys und versuchte dann so langsam einen Rückzug in Richtung Motorrad. „Es ist spät, ich bin müde und fahre noch ein Stück", sagte er. Das stimmte sogar und die restlichen Theaterfans sahen es ein und verabschiedeten sich. Sie zogen durch einen Zugang zur Straße ab und Rufus wollte noch einmal auf sein Handy schauen, ob es weitere Nachrichten gäbe, als plötzlich jemand aus dem Schatten des Hinterhofes hervortrat, sodass die Lampe über dem Bühneneingang sein Gesicht traf. Rufus erkannte ihn sofort. Oh shit, Oliver. Und er grinste, als wäre es die normalste Sache der Welt, in einem Hinterhof jemandem aufzulauern. „Was willst du hier, verzieh dich!", zischte Rufus und hoffte, dass man seiner Stimme nicht anmerken würde, wie sehr er sich gerade zusammenreißen musste.

No lies, keine LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt