Teil23

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Rasieren mit Rufus war alles andere als zeiteffizient, aber wen interessierte das schon? Jeremy jedenfalls nicht und er konnte sich auch nicht mehr vorstellen, wie er noch vor einer Woche allein gewesen war. Er war nicht in dem Sinne einsam gewesen. Das ging gar nicht in seinem Beruf. In der Oper, auf der Bühne, dahinter, war immer was los. Viele Künstler und Musiker arbeiteten zusammen, entwickelten Ideen und waren kreativ. Er hatte sogar Schüler hin und wieder, er hatte mit June eine echte Freundin und vor allem hatte er die Musik. Aber da fehlte doch etwas ganz Entscheidendes. Und dieses fand er nun bei einem fast 1.90 Meter großen Engländer mit ungebändigtem Lockenkopf, elektrisierenden glasz eyes, der Unfähigkeit einen Kühlschrank zu füllen und einem wortwörtlichen Hang zum Dramatischen: Lebendigkeit. Wenn man es genau nahm, hatte er nicht Rufus, sondern Rufus hatte ihn gefunden. Und er hatte einer Seite von ihm neues Leben eingehaucht, die Jeremy in mehr als sechs Jahren für so gut wie tot gehalten hatte. Und wenn er jetzt in den Spiegel sah, war da nicht nur jeder Bartstoppel verschwunden, sondern auch jeder Rest von dem Mönch, der da noch vor einer Woche war. Jeremy bekam Lust noch ganz andere Dinge auch zu verändern. Rufus hatte die Rasur mit einem Kuss auf beide Wangen für beendet erklärt und fing an, sich anzuziehen und etwas aufzuräumen. „Sag mal, findest du, ich sollte was verändern? Frisur? Klamotten?", wollte Jeremy wissen. Rufus schaute zu ihm herüber und lächelte wie ein Lausbube. „Nein, bloß nicht!"

„Und wenn ich das gern würde?"

„Wir können mal zusammen einkaufen gehen, wenn du willst. Morgen habe ich zwei Vorstellungen, also wäre Donnerstag gut. Und den Kram lassen wir gleich hier. Hau ab aus deinem Hotel." Rufus machte schon wieder Pläne, wie es schien. Jeremy gefiel das gut. Mehr als gut.

„So machen wir es." Er sah sich im Spiegel lächeln.

„Ich kann dich auch gleich zu dem PR- Termin fahren. Dann gehe ich zum Arzt. Je eher, desto besser. Die müssen zwei Tests machen. Und ich lasse dir einen Schlüssel für die Bude hier machen."

„Oh gut. Sehr gut. Dann packe ich nach dem Termin mein Zeug zusammen und komme später zum Theater?"

„Perfekt!"

Jetzt wurde es langsam wirklich Zeit, sich auf den Weg zu machen. Jeremy suchte seinen Kram aus allen möglichen Ecken und es kam ihm alles so vor, als müsste es so sein. Er war wirklich erleichtert, dass er Rufus von David erzählt hatte und Rufus war toll damit und es hatte sie einander noch näher gebracht als zuvor. Es wurde einfach immer besser und besser...


Nur etwa zwei Stunden später wankte Jeremy der Boden unter den Füßen. 

„Das ist doch nicht Ihr Ernst?!!" Er war nicht nur zutiefst verletzt, er war auch mehr als nur geschockt: Er war entsetzt. Jeremy ging ans Fenster, um sich zu fassen. Der Mann von der Opera Now wurde erst rot, dann blass. Wenigstens ist es ihm peinlich. Er schaute von Jeremy zu June und dann zu ihren Managern. „Doch, Mister Harrison. Wenn Sie sich weiterhin Hoffnung auf den Preis machen wollen, dann müssen wir Sie bitten, diskreter zu sein."

„Was soll das denn heißen? Wer ist denn hier indiskret? Was geht Sie das überhaupt an?" Jeremy hatte nicht vor, sich zu beruhigen.

„Sie können doch nicht leugnen, dass diese Situation eine gewisse Brisanz hat und wenn es darum geht, vor einer nach wie vor konservativ geprägten Jury und einem konservativen Publikum zu bestehen, dann ist es nur vernünftig, wenn Sie vorsichtig sind."

„Vorsichtig? Was wollen Sie eigentlich sagen? Dass ich auf ihn verzichten muss? Das ist doch lächerlich!" Jeremy drehte sich alles. „Raus mit Ihnen", sagte er dann und wiederholte es noch bestimmter, „Raus! Mit Ihnen!" Der Typ von der Zeitschrift schien noch etwas sagen zu wollen, aber sein Manager gab ihm ein Zeichen und dann gingen alle bis auf June. „Geh du auch!", fuhr Jeremy sie an. Sie zuckte zusammen und sah erst aus, als würde sie es tun, doch dann nahm sie als seine älteste Freundin ihren Mut zusammen. „Jeremy, bitte hör mir zu."

„Was gibt es da zu reden? Du willst doch nicht sagen, dass der Typ irgendein Recht dazu hat, sowas zu sagen!" Er funkelte sie böse an.

„Nein, das will ich ganz und gar nicht sagen. Aber..."

Jeremy zog den Atem wütend ein und sie wartete kurz ab, bevor sie fortfuhr: „...Diese Oper liegt dir doch am Herzen und diese Produktion und ich und der Maestro..."

„Ja genau, sehr sogar! Mehr als sich hier offenbar jemand vorstellen kann. Ich gebe hier doch nicht alles für den Grimes und Britten und was er sich dabei gedacht hat, um es dann von irgendeiner Jury in den Dreck ziehen zu lassen!" 

„Aber es will doch niemand etwas in den Dreck ziehen! ..." Sie suchte nach Worten.

Er war schneller als sie: „Der Typ hat gesagt, es sei nicht gut, wenn man uns zusammen sieht, mich und Rufus. Wenn es Grund zu der Annahme gebe, ich sei homosexuell und mit einem deutlich jüngeren Mann zusammen, sei das nicht gut. Das ist Dreck! Ein riesen Haufen Dreck!"

„Was er meint ist, dass die Jury dich für einen begabten Sänger und Darsteller hält, der für die Rolle des Grimes einen Preis verdient. Wenn herauskommt, dass du schwul bist, dann ..."

„Was dann? Bin ich dann ein weniger guter Darsteller und Sänger?"

„Dann ist es nicht so ... außergewöhnlich."

„Ach, dass ein Schwuler einen Schwulen spielt ist weniger Leistung, als wenn ein heterosexueller Mann einen heterosexuellen Mann spielt?" Jeremys Entrüstung näherte sich jetzt offenbar dem Höhepunkt. "Das ist nämlich genau das, was die meisten eben machen, wenn sie den Don Giovanni oder Figaro oder sonst wen darstellen!  Abgesehen davon spiele ich den Grimes nicht mal schwul. Das ist gar nicht der Punkt! Er ist ein Außenseiter, einer, der gegen den Strom schwimmt..."

„Und er ist in der dramatischsten Szene mit einem Jungen allein in seiner Hütte, einem minderjährigen Jungen; der Angst vor ihm hat und Blutergüsse. Ist dir nicht klar, was die Leute dann denken?" Sie hasste es auch, das zu sagen, aber es musste wohl sein.

„Das ist so unglaublich, so unfassbar, so verkehrt! Und es ist homophob! Wer schwul ist, ist noch lange kein Päderast, verdammt."

„Jeremy, ich weiß das, du weißt das, viele wissen das, aber es geht hier um die Vorurteile, die zu viele andere Leute, konservative, unbelehrbare Leute, leider noch immer haben. Wie alt ist Rufus?"

„Das ist doch grober Mist! Was hat das jetzt mit ihm zu tun? ...Ich weiß nicht genau. Er fährt Motorrad, er war an der Uni- Mitte zwanzig, würde ich sagen. Er ist größer als ich und hat Bartwuchs, dammit!" Jeremy konnte einfach nicht fassen, was sie da sagte, das war auch nicht was sie dachte, aber sie machte ihm deutlich, was andere dachten. Sollte er vielleicht über alles nachdenken? Wie sollte er damit klarkommen, wenn diese widerlichen Leute irgendwelchen Dreck über Rufus dachten? Was wäre mit seiner Karriere? Oh, verdammt, das alles.

„Was schlägst du vor?", fragte er dann etwas kleinlaut. Er sah ihr in die Augen.

Sie hatte Wut und  Schmerz in seinen Augen gesehen und es fiel ihr schwer, doch sie hatte bereits mit ihrem und seinem Manager gesprochen und sie waren zu einer „Lösung" gekommen. „Der Preis wird am Samstag in zwei Wochen vergeben. Es geht also nur darum, deren Spiel für etwas mehr als zwei Wochen mitzumachen... Du und Rufus, ihr müsst vorsichtig sein. Keine Übernachtungen in der Garderobe, keine Öffentlichkeit... In der Öffentlichkeit...gehen wir zwei zusammen zu Interviews, über den Roten Teppich. Die kriegen was sie wollen. Du und ich, der Maestro und der Grimes, alle, die hart für diese Produktion gearbeitet haben, kriegen diesen Preis." So, das war raus.

Jeremy war sprachlos. Es wäre so falsch, so heuchlerisch, so verabscheuungswürdig. Aber es könnte funktionieren. Wollte er sonst dafür verantwortlich sein, wenn June und die anderen seinetwegen leer ausgingen? Was würde Rufus dazu sagen? Keine Lügen, keine Schuldgefühle...

„Er hat gesagt: Keine Lügen. Das wäre so falsch..."

„Ist das wirklich ernst mit euch, liebt er dich?"

„Ja, sicher. Das tut er."

„Dann rede mit ihm."

„Das wird ihm wehtun. So sehr." Jeremys Stimme klang leer und ohne Hoffnung auf ein Einlenken.

„Rede mit ihm."

Oh, Gott!

No lies, keine LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt