55. Sie ist meine Familie

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Seit jener Nacht wurde ich im Gefängnis von den anderen Bewohnern wie eine Verräterin behandelt. Ich galt als der Staatsfeind Nummer eins, weil ich den Helden, der uns so viel Essen besorgt hatte, wie eine Irre abgeschlachtet hatte.
Die anderen mieden meinen Blick, wichen mir aus, wenn ich ihnen entgegenkam und keiner wechselte mehr ein Wort mit mir. Nur das Nötigste wurde mit mir gesprochen. Ich wurde von all meinen Diensten suspendiert, blieb den ganzen Tag in meiner Zelle.
Daryl war der Einzige, der mich in der Zelle besucht hatte. Einmal hörte ich, wie Beth auf meine Zelle zulief, sich dann aber doch anders entschieden hatte. Nach all dieser Zeit konnte ich die Leute anhand ihrer Gehgeräusche erkennen, unterscheiden. Ich wusste sogar, ob sie wütend den Gang entlangstapften oder aber hektisch rannten.
Der Vorhang meiner Zelle war zugezogen. Daryl brachte mir drei Mal am Tag etwas zu essen. Ich wusste, dass ich etwas Schlimmes getan hatte und die anderen den Grund dafür nicht kannten. Das war auch der Grund, warum sie sich von mir fern hielten. Sie wussten mich nicht mehr ein zu schätzen. Wäre die Situation anders herum und beispielsweise Michonne oder Maggie hätten so etwas getan, würde ich vermutlich ganz ähnlich reagieren.

Daryl hatte mich nach dem Tod von Marcus in die Duschen getragen. Er war selber total fertig, hatte am ganzen Körper Schmerzen, doch er nahm sich einen Lappen und wischte mich damit sauber. Ich betrachtete mich selbst in einem der milchigen Spiegel. Mein komplettes Gesicht war gesprenkelt mit blutigen Tropfen. Mein eigentlich graues Shirt war nicht mehr als solches zu erkennen und von meinen schmierigen Händen wollte ich gar nicht erst anfangen.
Fürsorglich säuberte Daryl mich mit dem Waschlappen, versuchte so vorsichtig wie möglich zu sein. Hin und wieder sahen wir uns in die Augen, doch ich konnte in diesem Moment einfach nichts empfinden. Mir war klar, was das alles bedeutete. Dass ich meinen Freifahrtschein selber unterzeichnet hatte und gehen musste.
Nachdem Daryl mich in die Zelle gebracht hatte, ließ er mich alleine. Ich wusste, dass er mit Rick und dem Rest des Rates sprechen wollte. Er wollte die Situation aufklären, ihnen den Grund sagen, obwohl ich es ihm verboten hatte. Mir war klar, dass sie es dann verstehen konnten, doch ich wollte das alles hinter mir lassen. Vergessen. Einfach vergessen.

Schritte waren zu hören und ich horchte auf. Es waren mehrere Personen und als der Vorhang beiseitegeschoben wurde, erkannte ich Tyreese und Glenn dort stehen. Ich wusste, was das bedeutete, nickte und erhob mich unter Schmerzen. Ich lief den beiden hinterher ohne ein Wort mit ihnen zu wechseln. An ihren Blicken erkannte ich, dass es ihnen leidtat, wie ich behandelt wurde. Doch so waren die Vorschriften. Normalerweise wäre jeder andere Bewohner direkt und ohne Wenn und Aber aus dem Gefängnis verbannt worden. Doch da ich ein Ratsmitglied war, wollten sie sich meine Gründe anhören.
Auf dem Weg zur Ratssitzung trafen wir auf einige Bewohner. Diese wichen erschrocken vor mir zurück, mieden meinen Blick und einige hielten sogar die Augen ihrer Kinder zu.
Als wir um die Ecke zur Bibliothek bogen, erkannte ich Daryl vor der Tür stehen. Er tigerte vor ihr auf und ab und schien unglaublich nervös zu sein. Sein Auge war noch immer geschwollen und sein Schonhaltungsgang verriet ihn und seine Schmerzen.
Als er Glenn, Tyreese und mich entdeckte, sah er auf und blieb wie angewurzelt stehen. Daryl hatte seine Hände schlaff neben seinem Körper hängen gehabt und seine Hände zu Fäusten geballt.
Während wir vor der Tür stehen blieben, schauten wir uns noch immer an.
Sein Anblick zerriss mir das Herz und es war mir egal, dass Tyreese und Glenn neben uns standen. Ich streckte meine Hand nach ihm aus und legte sie ihm an die Wange. Das Blau seiner Augen wirkte traurig und strahlte ebenso Wut aus.
Glenn hatte die Tür geöffnet und Tyreese betrat als erstes die Bibliothek.
„Riley?", bat Glenn mit leiser Stimme und ich sah zu ihm. Ich nickte stumm, schaute noch einmal zurück zu Daryl und machte den ersten Schritt in die Bibliothek. Daryl wollte nachkommen, doch Glenn hielt ihn auf.
„Du nicht, Daryl", sprach er plötzlich und ich drehte mich überrascht zu ihm um. „Du bist zu befangen."
Verständnislos starrte Daryl Glenn bei den Worten an und verzog seine Lippen zu einer schmalen Linie.
„Ist okay", hauchte ich, was mir Daryls Aufmerksamkeit wieder einbrachte. „Ich schaff' das."
Ich zog einen Mundwinkel in die Höhe und nickte ihm zu. Er presste die Kiefer aufeinander und nickte ebenfalls.
„Ich werde hier warten."
Dann schloss sich die Tür zur Bibliothek und ich stand alleine vor dem Rat. Tyreese hatte sich an die Tür gestellt. Vermutlich zur Überwachung. Was ich etwas übertrieben fand, ich jedoch darüber meinen Mund hielt.
Mein Blick glitt zu dem Tisch, an dem Hershel, Glenn, Sasha und Rick nun saßen. Für diese Entscheidung hatten sie Rick wohl wieder mit ins Boot geholt.
Die Atmosphäre war eigenartig. Sie war gleichzeitig angespannt, unruhig und zutiefst befremdlich.
Mein Platz war offensichtlich der auf dem einsamen Stuhl vor dem großen Holztisch. Schweigend setzte ich mich nieder und schaute die vier mit gemischten Gefühlen an. Ein Kloß wuchs in meinem Hals heran und ich hatte Mühe ihn mir nicht anmerken zu lassen. Ich kam mir vor wie damals, als ich im Gericht saß und Anklage gegen Marcus erhoben hatte. Wie die Richter mir Fragen stellten und die Anwälte von Marcus mich mit unschönen Details konfrontierten. Dieser Penner hatte es nicht einmal für nötig gehalten selbst zu dieser Verhandlung zu kommen.

Liebe in Zeiten der Apokalypse 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt