Fliegen

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Zwei Wochen vergingen. Langsam gab ich die Hoffnung auf, dass der Vampir sich nochmal bei mir blicken ließ.

Gerade als ich einen Film sah, in Schlafanzug auf dem Bett saß und Chips futterte, klopfte es gegen mein Fenster. Etwas steif blickte ich hin. Sein bleiches Gesicht lugte hervor. Als er bemerkte, dass ich ihn anstarrte, klopfte er nochmal. "Mach bitte auf."

Ich nahm meinen Mut zusammen und ging zum Fenster, um es zu öffnen. Gleich darauf sprang der Vampir in mein Zimmer. Erwartungsvoll sah ich ihn an. Warum war er gekommen? Manuel setzte sich auf mein Bett. "Ich wollte mich entschuldigen."  Ich blieb stehen. Nur verschränkte ich meine Arme. "Nach dem Aufwachen rieche ich nur Blut, weil ich Hunger habe. Ich kann es nicht kontrollieren, wer ich dann bin und was ich mache." Er sah zerknirscht in mein Gesicht. Seufzend setzte ich mich ihm gegenüber. "Ich dachte, du killst mich." "Umbringen tue ich nie. Nur trinken." Er lächelte verlegen. "Wieso hast du es dann nicht bei mir getan, wenn du sagst, du kannst es nicht kontrollieren?" Nervös griff ich nach meiner Decke und zerknüllte ein Zipfel von ihr in den Händen. Manuel seufzte. "Manchmal ist der Willen stärker, als der Instinkt. Du bist mein einziger Freund."
Seine Worte rührten mich. "Daher habe ich dir was mitgebracht. Als Entschuldigung." Manuel grinste breit und holte dann etwas unter seinem langen schwarzen Umgang hervor. Es war ein gefaltetes Stück Stoff, welches mit einem Garn zusammengebunden wurde. "Sehe es als Geschenk an. Aber ich brauch es ab und zu wieder." Er streckte mir das Stück Stoff zu. Zögerlich griff ich danach und berührte dabei leicht seine dürren knochigen Finger. Sie waren kalt. Wie die von einer Leiche.

"Danke", murmelte ich und band das Garn auf. Der Vampir beobachtete mit einem grinsen, wie ich das Geschenk ausbreitete. Ich stellte mich hin und hielt es vor meinen Körper. "Das ist doch der Selbe, wie deiner." Ich freute mich wahnsinnig. "Los, probier ihn an." Manuel stand auf, ging um mich herum, riss mir dabei den Umhang aus den Händen und warf ihn mir über die Schultern. Von hinten band er mir ihn um den Hals fest. Seinen kalten Atem spürte ich an meinem Nacken. Er lag für ihn frei. Doch er biss mich nicht.

Als er den Knoten fertig hatte, drehte er mich um und hielt mich auf Armlänge weg. "Du siehst zum vernaschen gut aus", kicherte er dann. Sein Blick wanderte meinen Körper auf und ab. "Danke." Ich wurde rot. Das spürte ich. "Und jetzt komm. Wir machen einen Ausflug." Manuel sprang leichtfüßig auf meine Fensterbank. Doch ich blieb wie angewurzelt stehen. "Ich, ich trau mich nicht." Manuel kniete sich nieder, lächelte und streckte seine Hand nach mir aus. "Vertrau mir. Dir passiert nichts. Fliegen ist kinderleicht. Und wenn du fällst, fang ich dich auf." Seine Finger zuckten kurz.

Mein Herz hämmerte wild gegen meinen Brustkorb. Dann aber griff ich nach Manuels Hand und sprang neben ihn auf die Fensterbank. Mein Blick wanderte die Hauswand herunter. Sofort drehte sich mein Magen und mir wurde schwindelig. "Ich werde sterben", wimmerte ich verzweifelt. "Wenn du stirbst, verwandele ich dich. Dann, naja, lebst du weiter. Anders, aber du tust es." Manuel kicherte. "Ich will kein Vampir werden." Fassungslos über seine Aussage, sah ich ihn an. "Dann los. Flieg mit mir." Manuel erhob sich langsam, breitete seine Arme aus und stieß mir damit fast gegen den Kopf. Dann sprang er in die Tiefe. Mir blieb mein Herz stehen. Das traute ich mich nie im Leben. Doch anstatt in die Tiefe zu fallen, flog er einen eleganten Bogen, bis er wieder bei mir war. "Jetzt du." Er klang hellauf begeistert. "Ich trau mich nicht." Krampfhaft hielt ich mich am Fensterrahmen fest. Manuel seufzte. "Gib mir deine eine Hand. Die andere hält den Umhang." Ich tat was er sagte. Fast krampfhaft hielt ich seine Hand fest. "So und jetzt beweg deinen Arm leicht." Wieder tat ich das, was er sagte. Meine Füße hoben ab. Nur noch meine Zehen berührten den Sims. Dann zog Manuel mich nach vorne. Langsam und besinnt, bis ich keinen Fenstersims mehr unter den Füßen hatte, sondern das pure Nichts. Mehrere Meter ging es nach unten. "Ich lass jetzt deine Hand los, ja. Dann greifst du damit die andere Seite des Umhangs." Ich verstärkte den Griff um seine Hand und schüttelte hastig den Kopf. "Du kannst schweben, auch ohne das du ihn festhälst. Schau." Er ließ seine andere Hand los und legte sie um unsere Verschränkten. "Du fällst nicht. Fühl dich frei. Du brauchst keine Angst haben. Lass los." Meine Angst wurde durch seine Worte nicht weniger. Schließlich tanzte ich hier oben zwischen Leben und Tod. Doch ich ließ langsam seine Hand los und griff nach meinen Umhang. "Ich Fliege!", rief ich dann begeistert. Ich fiel tatsächlich nicht. "Und jetzt, sei wie ein Vogel. Schlag mit den Armen." Er machte es vor, flog nach oben und machte in der Luft einen Looping. Dabei lachte er herzhaft. Er klang frei.

Grinsend flatterte ich mit meinen Armen auf und ab. Etwas wackelig, flog ich nach oben. Ich konnte es nicht glauben. Auch aus meiner Kehle kam ein freies Lachen. Ich war vermutlich der erste Mensch, der fliegen konnte. "Wuhu!", schrie ich in den Nachthimmel empor. Manuel sah grinsend auf mich, wie ich langsam einen Bogen um ihn flog. "Lass uns einen Ausflug machen. Ich bring dich wohin." Mit einem kräftigen Stoß seiner Arme, katapultierte er sich nach vorne und flog dann, mit dem Rücken nach unten, vor mir her. Er behielt den ganzen Flug über ein wachsames Auge auf mich. Und von Minute zu Minute fühlte ich mich sicherer.

Der Vampir/ KürbistumorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt