2. August

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Gähnend und mich noch immer streckend setze ich mich zu Sienna und Mark an den Frühstückstisch. Ich bin ein Pflegekind und wohne jetzt seit etwas mehr als drei Jahren bei ihnen. Meine biologischen Eltern könnte ich niemals als Familie betrachten und die Pflegefamilie, in der ich zuvor war, auch nicht. Sie haben mich nicht beachtet und wenn, dann wurde ich nur beschimpft.
Bei Sienna und Mark ist das anders. Sie können keine Kinder bekommen und haben mich, als ich zu ihnen kam, sofort in ihr Herz geschlossen. Bei ihnen habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl von Geborgenheit gespürt und mich immer wohlgefühlt.
„Na, wie war die Party, Sweetheart?", mit ihrem amerikanischen Akzent klingt Sienna immer freundlich und aufgestellt. Sie ist vor zehn Jahren in die Schweiz gekommen und hat hier Mark kennengelernt.
„Ja, es war toll. Und das Feuerwerk erst! Habt ihr es gesehen?". Wir wohnen nicht weit von der Waldhütte entfernt und haben eine grosse Terrasse, von welcher aus man das Feuerwerk bestimmt hat sehen können.
„Ja, wir haben es gesehen. Es war sehr schön! Wir haben auch einen Vulkan angezündet. Selbst nach zehn Jahren krieg ich noch immer nicht genug von diesem Spektakel." Sienna sieht Mark mit einem liebevollen Blick an. Wenn ich sehe, wie sehr sie sich lieben, wünsche ich mir immer, dass ich das auch einmal so erleben darf.
„Was hast du heute vor?", fragt Mark mich, während er in den Sportteil der Oberbruckner Nachrichten vertieft ist. „Ich denke, ich gehe noch joggen und ordne meine Schulsachen ein, damit ich nach den Ferien nicht mehr so viel zu schleppen habe und später gehe ich noch zu Bebe. Wir wollen uns den neuen Film mit Hugh Grant ansehen."
Mark legt die Zeitung zur Seite und sieht dann erst Sienna kurz an und dann mich. „Sienna und ich wollen heute ins Open Air Kino in St. Gallen. Ist es okay für dich, wenn wir gehen? Ich habe dir diese Cornatur-Plätzchen besorgt, die du so magst, die kannst du dir ja zum Abendessen machen. Zucchetti und Peperoni hat es im Kühlschrank und im Keller hat es frisch gepressten Apfelsaft.". Mark hat eine tiefe, bestimmte, aber auch sehr liebe Stimme. „Klar könnt ihr gehen! Habt Spass und geniesst das schöne Wetter. Welchen Film seht ihr euch denn an?", frage ich zwischen zwei Schlucken Orangensaft. Sienna grinst und antwortet: „Ein ganzes halbes Jahr." Ihr Lieblingsbuch, und ich mag es auch sehr. Es geht um Familie, Liebe, Akzeptanz und die Auseinandersetzung mit Leben und Tod. „Ihr müsst mir dann erzählen, wie er war!"
Nach dem Frühstück gehe ich nach oben in mein Zimmer, packe alle meine Schulmäppchen auf den Schreibtisch und beginne zu ordnen. Das lenkt mich etwas von den Gedanken an gestern Abend ab.

„Sweetheart, brauchst du noch was aus der Stadt? Ich gehe einkaufen und du solltest auch mal nach draussen, du sitzt schon über zwei Stunden hier und ordnest deine Sachen. Mach das doch später fertig", meint Sienna liebevoll. Ich stehe vom Stuhl auf und gehe zu ihr. „Nein danke, ich brauche nichts." Sie nimmt mich in die Arme und drückt mich. „Du wirkst bedrückt, Emma, ist irgendwas?" Sie hat es also bemerkt. Ich versuche, mich rauszureden, „Nein, alles in Ordnung. Ich gehe jetzt joggen." Sienna drückt mich noch mal fest an sich und geht dann zur Tür. Dort dreht sie sich um und sagt: „Du kannst immer zu mir kommen, das weisst du, ja?" Ich nicke und sie schliesst die Tür hinter sich.
Ich krame meine Joggingsachen hervor, schlüpfe hinein und renne in den Wald.

Ich bin schneller unterwegs als sonst, obwohl ich normalerweise schon ein rechtes Tempo draufhabe. Die Gedanken an den gestrigen Abend lassen mich einfach nicht los. Nach 25 Minuten bin ich schon an der Bank, an der ich normalerweise nach 35 Minuten ankomme. Ich lasse mich auf die Bank fallen und lege mich der Länge nach darauf. Vom heftigen Schnaufen hebt und senkt sich mein Brustkorb. Erst noch schnell und dann immer langsamer. Ich liebe es, mich beim Joggen zu verausgaben, weil ich dann alles vergessen kann, aber heute will es einfach nicht funktionieren. Ich habe immer noch das Gefühl, ich könne seine Lippen auf meinen spüren. Ich schliesse meine Augen und lasse den Kuss vor meinem inneren Auge Revue passieren. Ich erinnere mich an das Gefühl, wie sich seine Hände auf meinen Hüften angefühlt haben und seine weichen Lippen auf meinen. Das Feuerwerk von gestern war ein Nichts im Gegensatz zu dem, was ich gefühlt habe.
Das Klingeln meines Handys reisst mich aus meiner Erinnerung und ich verfluche den Anrufer leise dafür, bevor ich abhebe.
„Hei Emma! Kommst du später vorbei?" Bebe hat wohl mittlerweile ihren Kater ausgeschlafen. „Jap, ich komme so in einer Stunde, oder sagen wir anderthalb, ich will noch duschen, vorher.", Bebe kichert und antwortet dann: „Okay, das ist super! Ich habe gerade entdeckt, dass ‚Ein ganzes halbes Jahr' jetzt auf iTunes verfügbar ist, dann können wir uns den gleich ansehen. Es soll ja den ganzen Nachmittag regnen." Ich schaue in den Himmel und sehe, wie langsam graue Wolken aufziehen. „Ich beeile mich und bin dann um drei bei dir. Hab dich lieb", antworte ich und beginne schon wieder mit dem Joggen. „Bis gleich, Süsse!", sagt Bebe noch und hängt dann auf.
Im Eiltempo renne ich nach Hause.
Ich sage Sienna und Mark noch Bescheid, dass sie einen Regenschutz zum Open Air Kino mitnehmen sollen und springe dann unter die Dusche. Das eiskalte Wasser aus dem Duschkopf kühlt meine warme Haut ab und tut einfach nur gut nach dem Joggen.
Nach dem Duschen schlüpfe ich in eine meiner lockeren, verwaschenen Boyfriendjeans und streife mir ein hellgrünes Tanktop und den dunkelgrünen Kapuzenpullover, den ich zu Weihnachten von Mark bekommen habe, über. Unten umarme ich noch einmal Sienna und Mark, gehe dann in die Garage und schiebe meine rote Vespa nach draussen. Ich habe einen weiten Schulweg und selbst mit dem Fahrrad geht es sehr lange. Deshalb durfte ich vor zwei Jahren den Führerschein machen.
Zehn Minuten später komme ich bei Bebe an, die mir schon die Garage aufgemacht hat, damit ich die Vespa unterstellen kann.
Kaum bin ich drinnen, fängt es draussen an zu schütten. Phu, gerade noch mal Glück gehabt!
Ich umarme Bebe und ziehe den dicken Pullover aus. Trotz des Regens ist es bei ihnen im Haus sehr warm.
Wir schneiden uns eine Wassermelone auf, machen uns einen Krug mit Wasser und Eiswürfeln und gehen damit nach oben in ihr Zimmer.
Bebes Eltern sind sehr wohlhabend durch ihre Arbeit als erfolgreiche Anwälte. Allerdings sind sie geschieden und Bebe lebt bei ihrer Mutter, welche momentan aber mit ihrem Freund auf den Malediven in den Ferien ist. Am Kühlschrank hängen viele Postkarten mit wunderschönen Inseln im Meer. Auf mindestens fünf davon steht gross: MALEDIVES.
Oben in ihrem Zimmer angekommen, setzen wir uns auf die Couch vor den grossen Flachbildfernseher. Die Wand zum Garten besteht bei ihr nur aus Glas. Der Regen prasselt leise dagegen und die Wassertropfen perlen an der Scheibe ab. Bebe kauft den Film bei iTunes und wir sehen ihn uns an.
Der Film ist sehr witzig gemacht, doch gegen Ende wird er immer trauriger und als der Abspann läuft, schnäuzten wir uns beide und werfen unsere Taschentüchcher in den Mülleimer. Es ist mittlerweile fast sechs und der Regen ebbt langsam ab. Da haben Sienna und Mark aber nochmal Glück. Ihr Film beginnt gegen halb zehn und regnen sollte es später nicht mehr.
Ich setze mich etwas aufrechter hin und strecke mich einmal. „Er war gestern noch hier", sagt Bebe in die Stille und ich lasse langsam meine Arme sinken.
„Und, was hat er gesagt?", frage ich vorsichtig. „Nicht viel. Ich war ja betrunken und er stand einfach plötzlich vor der Tür und dann habe ich ihn eben reingelassen und dann hat er mich einfach nur in den Arm genommen und sich mit mir schlafen gelegt." Sie erzählt alles sehr ruhig und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. „Als ich am Morgen aufgewacht bin, war er unten in der Küche und hat mir ein Schinken- und ein Nutella-Brot gemacht und sich dann beim Frühstück entschuldigt. Er hat gesagt, er hätte gar keine andere geküsst, sondern das nur gesagt, weil er wütend war, weil ich wieder mal eine halbe Stunde zu spät gekommen war." Ich denke darüber nach, was sie gerade gesagt hat, und erinnere mich daran, dass sie vorher am Telefon gekichert hat. „War er vorhin noch hier? Als ich angerufen habe?", frage ich sie neckend. Sie grinst, lacht und nickt. Ich nehme sie in die Arme und drücke sie fest an mich. „Ich freu mich für dich, wenn es wieder gut ist und da tatsächlich nichts war." – „Er hat mir geschworen, es sei nichts gewesen, und ich glaube ihm", sagt sie überzeugt.
David ist ein netter Kerl und ich glaube, er liebt Bebe auch, aber er ist leider auch ein richtiger Frauenheld und ob er momentan eine monogame Beziehung eingehen kann und will, da bin ich mir nicht so sicher.
Wenig später verabschiede ich mich von Bebe und als ich auf meiner Vespa davonrausche, kommt mir der silberne BMW von Davids Vater entgegen.

Zuhause angekommen ist es schon halb acht. Ich schnipple die Peperoni und die Zucchetti und brate sie in der Pfanne an. Kurz darauf gebe ich die Gemüseplätzchen hinzu und gehe in den Keller, um mir ein Glas Apfelsaft zu holen.
Ich setze mich mit dem Teller voll Gemüse, dem Glas Apfelsaft und einem Krug Eiswasser nach draussen auf die Terrasse. Man hört die Vögel um diese Zeit noch zwitschern und ich geniesse die kühle Abendluft während des Essens. Als dann das Gezwitscher langsam ruhiger wird, gehe ich nach drinnen und wasche Teller, Pfanne und Besteck ab, bevor ich mit dem frisch aufgefüllten Krug nach oben in mein Zimmer gehe und den Rest meiner Blätter einordne, welche ich am Nachmittag liegen gelassen habe.

Ich habe gerade das letzte Blatt in einem Ordner abgelegt, ihn zugeklappt und ins Regal gestellt, als ich ein Klopfen an meinem Fenster höre. Ich gehe hin, ziehe die Vorhänge auf und mir fällt die Kinnlade nach unten.
Am Baum vor meinem Fenster hängt Nevio an einem Ast und versucht gerade nochmals zu klopfen, als er mich sieht. Ich reisse sofort das Fenster auf und helfe ihm ins Zimmer.
„Bist du eigentlich verrückt? Du hast doch Höhenangst und das sind mindestens drei Meter bis unten!", stosse ich entsetzt heraus.
Nevio schüttelt einmal den Kopf, als wolle er wieder auf klare Gedanken kommen.
„Ich wollte halt zu dir und wusste nicht, ob deine Pflegeeltern da sind. Da dachte ich, ich versuche es mal an deinem Fenster und so hoch sah es auch nicht aus von da unten. Ist jetzt aber doch ganz schön hoch." Ich sehe ihn immer noch etwas entsetzt an, bis er mich anlächelt und mich auch zu einem Lächeln bewegt. „Was tust du eigentlich hier?"

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