Als die beiden Leichen abgeholt sind weiß Mel dass sie so schnell wie möglich weg muss. Alleine in dem Haus das einst so voller Leben war kann sie es nicht aushalten. Sie beschließt eine Stelle als Au-pair-Mädchen anzunehmen. Weit weg von daheim, in Amerika will sie ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Mel hat die Anonce auf dem Tisch liegen und ruft dort an. Ein freundlich klingender Herr nimmt ab und Mel stellt sich vor. Melpomene Schulz, 18 Jahre alt, Abitur und hat einen Platz an der Universität von Mystery Spell ergattert. Der Mann am anderen Ende der Leitung ist ganz aus dem Häuschen. „Ab wann können sie bei uns anfangen? Ich dränge etwas weil derzeit unser kleines Mädchen alleine mit seinen drei Brüdern lebt." „Am liebsten schon morgen." sagt Mel wahrheitsgemäß. „Wunderbar!" kommt es erfreut durchs Telefon. Mel packt in Windeseile ihre Tasche. Sie nimmt nicht viel mit und meidet Erinnerungsstücke. Sie möchte die Vergangenheit hinter sich lassen. Als sie nach unten hastet bricht sie sich fast die Knochen als sie auf Stitchs Ball ausrutscht. Jolie hat ihn gestern das letzte mal für Stitch geworfen. Sie legt ihm seinen Gummiball aufs Grab und verabschiedet sich von ihrem alten zu Hause. Wehmütig blickt sie zurück. Und plötzlich bricht das Leid der Welt über sie. Der Schmerz drückt heftig ihre kleine Seele. Sie weiß dass dies nicht das einzige Haus ist das nach einem liebevollen Leben leer steht, sie nicht die einzige Tochter ist deren Schwester Krebs hat, deren Vater und Stiefvater verschwunden sind und deren Mutter sich das Leben genommen hat. Nicht die einzige zu sein tut gut. Es tröstet zu wissen dass es andere auch schon erlebt und überlebt haben.
Am Flughafen kauft sie ein one way Ticket und fliegt nach Amerika.
Am Flughafen in den Staaten wartet eine skurrile Gruppe auf sie. Drei junge Männer und ein kleines Mädchen halten ein Schild mit ihrem Namen hoch. Der älteste der Männer scheint Mitte zwanzig zu sein oder 250, je nachdem ob man ihm ins Gesicht schaut oder auf seine eigenwillige Kleidung. Er sieht aus wie ein Märchenprinz. Die Klamotten stammen sicherlich aus einem Theaterfundus. Sein ebenmäßiges Gesicht, seine nussbraunen Augen und schulterlangen Haare lassen sein Erscheinungsbild edel und nicht etwa absurd wirken. Der zweite ist sicherlich wie Mel Anfang Zwanzig. Er hat schwarze strubbeliges Haar und grüne Augen. Er sieht in seinen schwarzen Klamotten düster aus. Wäre er geschminkt könnte er ein Gothic sein, der dritte ist noch ein Junge, vielleicht 16 oder 17 Jahre. Er hat ein fröhliches Grinsen im Gesicht. Auf seinen weißblonden Haaren hat er einen Hut aber er ist ansonsten normal gekleidet. Das kleine Mädchen sieht aus wie eine mürrische Puppe. Mel geht freundlich lächelnd auf die Gruppe zu. „Hallo, ich bin Mel." stellt sie sich vor. „Nicolae. Nicolae Bartholy." stellt sich der älteste mit einer angedeuteten Verbeugung und einem Handkuss vor. Instinktiv knickst Mel und senkt standesgemäß ihren Blick. Mel wundert sich woher sie dieses Wissen hat. Diese uralte Form der Begrüßung hat sie nun schon lange nicht mehr genutzt. Ich bin Peter Bartholy." sagt der melancholische Gothic. Und schaut ihr interessiert ins Gesicht. Ein Mädchen das bei Nicolaes Begrüßung nicht giggelt oder komisch guckt ist eine Seltenheit. Eine die die Antwort kennt einzigartig. Mel erwidert seinen Blick. Sie erkennen in den Augen des jeweils anderen die Trauer und das Leid das dort vorhanden ist. Petzer zieht Mel in eine innige Umarmung. Es soll das Versprechen sein dass sie nicht mehr alleine ist. Es tut beiden gut.
„Hi, ich bin Drogo." grinst der jüngste. Er freut sich dass das Mädchen bei der seltsamen Begrüßung seiner eigentümlichen Brüder nicht weggelaufen ist. Er bemüht sich alles Richtig zu machen aber Lorie ist schneller: „Du riechst nach Tod!" sagt das kleine Mädchen angeekelt. Mel schaut sie an und sagt: „Entschuldige bitte dass ich mich nicht umgezogen habe." „Wer ist gestorben?" fragt das kleine Mödchen und ihre Augen fangen an zu glitzern. „Meine Schwester." erklärt Mel ruhig. Sie weiß nicht wieso sie so ruhig dabei bleiben kann aber sie kriegt sogar ein Lächeln hin. Vielleicht weil sie ihre Vergangenheit in Europa gelassen hat und die Distanz ihr eine andere Sicht auf die jüngsten Ereignisse gestattet. „Hast du sie umgebracht?" fragt das Kind mit unverhohlener Neugier. Die Brüder schauen entsetzt. „Nein, sie ist eines natürlichen Todes gestorben. Sie hatte Krebs." erklärt Mel dem Kind freundlich. Das Mädchen grinst gefährlich. „Dann hat sie gelitten!" sagt sie und scheint sich an dem Leid zu ergötzen. Mel nickt nachdenklich. „Nun, ja, natürlich hat sie gelitten. Alles Leben ist Leiden, nicht?" fragt Mel und lächelt den zu Salzsäulen erstarrten Brüdern zu. Sie nimmt dem Kind seine Ehrlichkeit nicht übel. „Du riechst aber als ob du zwei Leichen angefasst hättest." hakt das Mädchen weiter nach. „Meine Mutter hat es nicht überlebt dass ihr Kind gestorben ist." erklärt Mel mit sanfter Stimme. Es tut ihr Leid dass sie ihrer Mutter nicht mehr Kraft schenken konnte. Wie gerne hätte sie die Trauer der Mutter in etwas inspirierendes verwandelt. Doch die Schwermut war stärker als Mel. Das kleine Mädchen schaut mit unverhohlener Schadenfreude die ältere an und sagt: „Also hat sie Selbstmord begangen." Triumph springt aus ihren Augen als Mel traurig nickt. „Lorie!" sagt Nicole entsetzt und starrt seine kleine Schwester mit großen Augen und vor Schrecken offenem Mund an. Peter rinnt eine Träne aus den Auge und er murmelt leise: „Das tut mir leid." dann schaut er geknickt auf den Boden und Drogo schüttelt sich wie als würde er aus einem Traum erwachen. „An Weihnachten, wie feige!" sagt er giftig mehr zu sich selbst als zu Mel. Mel schaut ihn intensiv an. Drogo schaut hoch und wird rot. „Willkommen in Amerika." sagt Nicolae und lächelt Mel verschämt an. „Darf ich dein Gepäck nehmen?" fragt er höflich. Mel nickt und überlässt ihm die Taschen. „Bist du nicht traurig?" fragt Lorie als sie zum Auto gehen. Sie hat ihre kleine, eiskalte Hand in die von Mel geschoben. „Doch, ich bin sogar sehr traurig. An einem Tag die Mutter und die Schwester zu verlieren ist nicht einfach." entgegnet Mel ehrlich. „Dann passt du zu Peter! Der flennt auch nur den ganzen Tag rum!" sagt Lorie garstig, lässt Mel los und streckt Peter die Zunge raus. „Lorie, sei nicht so gemein." grinst Drogo die kleine Schwester an und legt ihr einen Arm um die Schultern. Lorie schaut fröhlich zu ihm auf. „Du bist wenigstens kein Trauerkloss." lacht sie ihm zu. Mel schaut wehmütig das boshafte Kind an. Dieses Mädchen gefällt sich in ihrer Rolle als Biest. Es wird anstrengend werden mit ihr auszukommen.
Die Fahrt nach Mystery Spell wird lange und kräftezehrend. Mel kann kaum die Augen offen halten. Lorie ist längst eingeschlafen. Sie hat sich auf Drogos Schoß eingerollt und Mel hat ihre Füße auf den Knien. Drogo ist der Kopf ebenfalls weggeknickt und er schnarcht leise. Langsam rutscht er Richtung Mel und irgendwann liegt sein Kopf auf ihrer Schulter. Seine Haare kitzeln ihre Wange. Sie nutzt seinen Kopf um sich ebenfalls ein bisschen anzulehnen und starrt aus dem Fenster. Sowohl Drogo als auch Lorie sind eiskalt. Mel nimmt ihre Jacke und legt sie über die eiskalten Beine Lories. Ihr Blick geht wieder aus dem Fenster. Sie schaut der Landschaft zu die an ihr vorbei fliegt. Mel fragt wie lange sie noch fahren werden. „Etwa sechs Stunden." ist Nicolaes Antwort. Mel rechnet nach. Dann wird ihr schlagartig bewusst dass sie dieser Familie das Weihnachtsfest verdorben hat. In den Staaten feiert man nicht den heiligen Abend. Und am ersten Weihnachtstag müssen die Bartholys direkt nach dem Telefonat aufgebrochen sein.