Ingrid, 68

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Als Ingrid 1950 geboren wurde, gehörte diese Stadt noch zur DDR. „Ich kann mich erinnern, früher war hier ein Kinderheim." Sie zeigt auf eine kahle Stelle am Straßenrand. Heute steht dort nichts mehr, nur noch die Natur findet ihre Wege durch die letzten Ruinen. „Meine Eltern haben mir verboten, mit den Kindern zu spielen, was ich natürlich trotzdem gemacht habe."

Sie erzählt mir von den vielen Abenteuern, die sie mit den Kindern erlebt hatte. Ihre Augen funkeln dabei mit den Adventskerzen um die Wette. Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist der Tag, an dem eine Lieferung mit neuen Spielsachen kam. „Für einige Kinder war das damals ihre erste Puppe." Auch die Strafen ihrer Eltern hat Ingrid nicht vergessen, aber das war es ihr immer wieder aufs Neue wert gewesen.

„Kommen Sie." Ingrid nimmt ihren Glühwein in die Hand und läuft ein Stück. Wir bleiben vor einem seit Jahrzehnten nicht belebten und heruntergekommenen Haus stehen. „Sehen Sie das?" Ich nicke. Über dem Fenster sieht man die Umrisse eines alten Schriftzugs. „Kolonialwarenhandel" lässt sich mit etwas Mühe entziffern. Nun sieht sie mich wieder mit ihren leuchtenden Augen an. „Hier haben wir früher manchmal ein Stück Schokolade bekommen." Ich überlege, dass so etwas wohl heute nicht mehr möglich wäre. Kein Laden würde einfach so ein Stück Schokolade an Kinder geben. Nicht mal, wenn sie den folgenden Tag ablaufen würde.

Beim Mauerfall saß Ingrid mit ihrer Familie vor dem Fernseher. „Ich habe gar nicht verstanden, was passiert ist." Anfangs hielt sie es sogar für eine schlechte Idee, Deutschland wieder zu vereinen. „Es war die Angst. Angst vor dem Neuen. Angst vor den anderen Leuten." Familie oder Bekannte im Westen hatte ihre Familie nicht und war deshalb nie in den direkten Austausch gekommen. „Natürlich habe ich mal etwas über den Westen gehört, aber das war für mich immer weit in der Ferne." In zwischen ist sie froh über den Mauerfall.

„Heute ist die Stadt ordentlicher. Vom ehemaligen Chaos ist nichts mehr zu sehen. Aber ich glaube, ein bisschen Chaos würde den Menschen gut tun." Mittlerweile ist Ingrid Rentnerin und auch wenn sie jetzt die Möglichkeit dazu hat, von ihrer Heimat würde sie nie fort gehen.

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