one

13 2 0
                                    

Ein kalter Wind peitscht mir ins Gesicht. Meine Haare tanzten um mich herum. Ich sog die kalte Herbstluft tief ein und atmete sie nach einigen Sekunden wieder aus.

Da stand ich nun. Vor dem Haus, welches ich nun zum 67. mal besuchten werde. Ich verharrte noch ein oder zwei Minuten, ehe ich mich überwand, auch dieses mal nicht zu schwänzen. Ich drückte gegen die dicke Glastür und warme Luft schoss mir entgegen.

32 Schritte geradeaus.

Die kahlen Wände beunruhigten mich jedesmal wieder. Alles war so leer hier drinnen, so kaltherzig. Als hätte ich für die eine Minute, die ich durch die Gänge gehe, vergessen, wie man Farben sieht.

47 Schritte nach links.

Niemand wusste, dass ich hier war. Niemand ahnte, dass ich es nötig habe. Dabei hatte ich es nötig. Nötig wieder etwas Zufriedenheit zu spüren. Überhaupt zu spüren.

8 Schritte nach rechts.

Da stand ich. Vor der Türe die ich schon 66 mal geöffnet hatte und mir noch immer ein Schauer über den Rücken lief, wenn ich es wieder tun musste. Hinter dieser Türe fühle ich mich nackt. Der Realität ausgesetzt.

67!

Mit diesem Gedanken öffnete ich sie. „Mila! Guten morgen.", grüßte mich die freundliche Stimme von Susan Hankin. Meiner Psychologin. Ich lächele ihr zu. „Guten morgen!", antworte ich ebenfalls mit einem breiten Lächeln. Meine Beine trugen mich zu dem roten Stuhl am Fenster, zu dem, den sie mich jeden zweiten Dienstagnachmittag, um 16:00 Uhr, trugen. „Wie geht es dir heute?", fragt Susan, welche ihr Lächeln minimalisiert hatte. „Gut, schätze ich.", antworte ich. Susan nickt und schreibt etwas auf ihren Notizblock. „Erzähl mir, wie es seit unserem letzten Treffen verlaufen ist.", fragt sie weiter und lächelt jetzt gar nicht mehr.

Mein Blick wandert zu dem Bild hinter Susan. Zum 67. mal frage ich mich, wieso der kleine Vogel auf dem Bild auf dem dürren kleinen Baum sitzen bleibt, wenn doch neben ihm ein so prächtiger Apfelbaum steht.

„Ich hab ihn nicht gesehen, seit dem Vorfall.", antworte ich kühl. Jetzt schaue ich Susan in die Augen. Sie waren stechend blau. Susan hatte lange schwarze Haare, die sich an den Spitzen etwas lockten. Heute trug sie sie streng nach hinten gebunden. Ich wusste rein gar nichts von ihr, während sie alles von mir wusste. Sie wusste jedes dreckige Detail. Mein Blick wanderte zu ihrer urigen und intelligent machenden, matt schwarzen Brille, durch die sie wahrscheinlich schon hunderte psychisch labile, junge Damen begutachtet hatte. Da war ich bestimmt keine Besonderheit.

„Mila, wie fühlst du dich mit dem Wissen, dass er nicht da ist.", kommt es nun von ihr. Ich musste ein wenig schmunzeln. „Gut. Nein, sogar sehr gut.", gebe ich zurück. Und lachte dabei kurz auf. Dann zog ich meine Augenbrauen zusammen und presste meine Lippen fest aufeinander. Ohne die Mine zu verziehen fuhr sie fort. „Und wenn er jetzt plötzlich wieder auftaucht? Wie würdest du reagieren?", war ihre nächste Frage. Mein Atem stockte und meine Hände begannen zu zittern. Ich wusste nicht was ich dann tun würde. In Gedanken griff ich zu dem schwarzen Küchenmesser, welches ich in meiner Schublade neben meinem Bett versteckt hatte, für alle Fälle. Für einen Fall, wie der als ich 10 Jahre alt war und er meine Mutter grün und blau geschlagen hatte und ich wusste, dass ich die nächste sein würde. Oder aber für den Fall, wie der als ich in dem Alter war, an dem man sich später eigentlich nicht mehr an Dinge erinnerte, welche in diesem Alter geschahen. Doch dieses Bild würde mir für immer im Kopf bleiben. Mein großer Bruder, der damals gerade 7 war, wird von meinem Vater so fest gegen die Wand geschubst, dass er ohnmächtig wurde. Ich dachte er wäre tot. Und warum? Weil mein Vater kein Geld mehr für Alkohol und Drogen hatte und behauptete, dass mein Bruder es gestohlen hatte. Mein Mund blieb versiegelt und es vergingen Minuten. Minuten die mir wie Stunden vorkamen. Hinter mir hörte ich die Wanduhr ticken und es machte mich verrückt.

Tick. Tack. Tick.

Susan suchte meinen Blick, doch ich starrte stur auf den braunen Fleck, der seit einigen Wochen den Tisch dekorierte. Mein Mund war trocken. Wortlos packte ich meine Tasche und lief los. „Mila?! Warte!", rief Susan mir erschrocken nach. Doch ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Ich hasste es, wenn man mich weinen sah.

NEIGHBOURWo Geschichten leben. Entdecke jetzt