Jula steht in ihrem Bad am Waschbecken und starrt ihr Spiegelbild an. Ihre Finger umklammern das kalte Becken so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. Wütende Augen blitzen ihr aus dem Spiegel entgegen, und als gegen ihre Zimmertür gepocht wird, fährt sie herum und stürmt zur Tür. Sie reißt sie auf, bereit, ihren Bruder anzubrüllen und verschluckt sich fast, als ihre Mutter vor ihr steht.
„Süße, bitte sei nicht sauer auf Lennard. Ich muss jetzt los, sonst verpasse ich meinen Termin. Vertragt euch um Emilias Willen." Julas Mutter streicht sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.
„Emilia, Emilia!", faucht Jula. „Ich habe es so satt!"
„Ich habe mir diese Woche auch anders vorgestellt!" Auch ihre Mutter erhebt nun die Stimme, doch Jula knallt ihr die Türe einfach vor der Nase zu. Sie hat keine Lust auf Diskussionen, die aussichtslos sind. Zornig schlüpft sie in ihre Jeans, verheddert sich und hüpft auf einem Bein durch das Zimmer, bis der Fuß endlich seinen Weg gefunden hat. Sie zerrt sich einen Hoodie über den Kopf, bindet achtlos ihre Haare zusammen und zieht anschließend die Kapuze darüber.
Geräuschvoll rauscht sie die Treppe nach unten und fährt ihre kleine Schwester an, sie solle sich gefälligst beeilen, während sie sich selbst in ihre Winterjacke einpackt.
„Jetzt sei mal nicht so gemein zu deiner lieben Schwester", Julas Bruder Lennard taucht in der Diele auf und lehnt sich selbstgefällig an einen Türrahmen.
„Du machst es dir mal wieder einfach!", schreit Jula ihn an. Ihre Stimme quietscht bedenklich und sie ärgert sich noch mehr, weil sie nicht mal ihre Stimme unter Kontrolle hat. Ihr Blick fällt auf Emilia, die mittlerweile zumindest die Schuhe anhat. Dass sie verkehrt herum sind, ist Jula an diesem Morgen ziemlich egal. Normalerweise bringt ihre Mutter die Kleine in den Kindergarten, doch heute hat diese ein Vorstellungsgespräch für ihren Traumjob, und Lennard behauptet, er wäre krank. Jula vermutet allerdings, dass er am Wochenende schlicht zu viel gefeiert hat und er noch Schlaf nachholen muss.
Beim Gedanken daran brodelt Julas Wut noch unkontrollierter, denn ihr eigenes Wochenende war furchtbar! Die Party am Samstag war ein absoluter Reinfall, ihre Begleitung war den ganzen Abend mit einigen anderen zusammen und bemerkte offensichtlich nicht, dass Jula sich abseilte. Und am Sonntag war eigentlich ein Treffen mit ihrem und Lennards Vater verabredet, das der aber aus beruflichen Gründen in letzter Minute absagte. Frustriert begleitete Jula ihre Mutter und Emilia daher in diesen Indoorspielplatz, wo ihr der Lärm und eine unzufriedenen Emilia den letzten Nerv raubten. Ab dem Augenblick, in dem Jula die Haare des fremden Mädchens als schön bezeichnet hatte, war Emilia nur noch biestig, sodass sogar ihre sonst sehr geduldige Mutter die Grenzen ihrer Geduld erreichte.
Nicht zum ersten Mal überlegt Jula, ob dieses fremde Mädchen die Tochter des jungen Mannes war, der sie begleitete. Sie hat ihn sofort wiedererkannt, als sie auf die Kletterwand zugegangen ist, noch bevor er sich umdrehte. Seine Körperhaltung war so eindeutig, sie hatte ihn am Samstag bei der Party lange genug beobachtet. Die Art, wie er seine Beanie ein kleines bisschen zurück schiebt und wie er sich den rechten Unterarm reibt, sind unverkennbar.
In seinem Gesicht suchte sie allerdings vergebens nach einem Zeichen des Wiedererkennens und so tat sie auch so, als hätte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Was hätte sie auch zu ihm sagen sollen? Bist du der, dem ich gestern Nacht nachspioniert habe? Oder noch besser, bist du der, der das andere Mädchen erst geküsst hat und es dann abblitzen ließ? Was sagt diese Tatsache über ihn aus?
Und falls das kleine Mädchen seine Tochter ist, wo ist dann die Mutter, die dazugehört? Sie hat viele Ideen, denkt alle möglichen und unmöglichen Zusammenhänge durch und ihre Gedanken arbeiten auf Hochtouren.
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Das Schaukelmädchen
Teen FictionWenn das Schicksal einen immer wieder zusammenführt, sollte man sich nicht dagegen wehren...