Prolog

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Hmm, ein Beispiel für radioaktiven Zerfall, der nicht zu Transmutation führt..

Ich knabberte nachdenklich an meinem Stift, das Aufgabenblatt lag zwischen meinem kaum angerührten Abendessen und mir. Ich könnte die Aufgabe sicherlich später machen, aber ich bevorzugte es, mich von Orten übersät mit Vervielfältigungen geistiger Leistung Anderer fernzuhalten, wie dem Internet und Textbüchern. Ich versuchte immer, meine Arbeitsaufträge alleinig mithilfe meines Wissens zu bearbeiten, bevor ich die Ergebnisse verglich. Das war der einzige Weg, um herauszufinden, was ich wirklich wusste und um nicht in Versuchung zu geraten, vorzugeben, ich wüsste alles, obwohl ich nur Notizen aus einem Buch abschrieb. Das Kurzzeitgedächtnis ist sehr trügerisch. „Wyatt, hör' auf deine Aufgaben beim Essen zu machen", hörte ich die Stimme meiner Mutter sagen, als ich meine kurze Antwort unter die Frage kritzelte - mit einem Bleistift, damit ich sie später noch verbessern konnte. Ich kniff meine Augen hinter meiner weiß gerahmten Brille leicht zusammen, bevor ich über den Tisch zu ihr hinübersah. Ihr Kiefer schien angespannt, aufgrund offensichtlicher Verwirrung und mein Vater saß mit einem besorgten Gesichtsausdruck neben ihr. Ich blickte von einem Ende des Tisches zum anderen, mich fragend, warum ich der Einzige war, an dem sie heute Abend herumnörgelte. Meine ältere Schwester Ava aß auf meiner linken Seite, während meine kleine Schwester Candace zu meiner Rechten die übrig gebliebenen Erbsen auf ihrem Teller mit der Gabel aufpickte. Dann drehte ich mich zur Seite, um meinen Zwillingsbruder auf seinem Zeichenblock vor sich hin skizzierend zu erblicken. „Du lässt Caleb malen", verteidigte ich mich, was meine Mutter frustriert seufzen ließ. Caleb blickte auf, sich vermutlich fragend, warum sein Name genannt wurde. „Immerhin legt er seine Arbeit zur Seite, um gelegentlich zu Essen. Außerdem hat er eine Ausstellung vor sich und bis dahin muss er noch zwei Gemälde beenden", antwortete meine Mutter, als Caleb sich schon wieder seinen Zeichnungen zugewendet hatte, da er vermutlich gemerkt hatte, dass die Konversation ihn nicht einschloss.

„Meine Hausaufgaben sind auch bald fällig", meinte ich nach meinem Blatt greifend. Ich musste sie erst in zwei Wochen abgeben, aber das musste sie ja nicht erfahren. „Leg' es weg, Wyatt", mischte sich mein Vater plötzlich mit strengem Tonfall in die Unterhaltung ein. Ich blickte ihn finster an, tat aber trotzdem wie verlangt. Mein Vater sprach nicht viel, doch wenn er es tat, dann aus puren Emotionen heraus und ich wollte nicht, dass er wütend auf mich war. Die Miene meiner Mutter entspannte sich, als ich meine Gabel nahm und begann von meinem Teller zu essen. Sie wendete schließlich ihre Aufmerksamkeit von mir ab und begann eine seichte Unterhaltung mit dem Rest der Anwesenden, während ich mit einem irritierten Gesichtsausdruck aß. Sie behandeln mich anders. Das dachte ich bei mir, als ich meine am Holztisch sitzende Familie betrachtete. Wir teilten alle das gleiche dunkle Haar sowie die braunen Augen - wir ähnelten uns sehr. Es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass wir eng verwandt waren. Doch trotz aller Ähnlichkeit fühlte ich mich außen vorgelassen.

Sie schätzen mich nicht wert. Jedes Mitglied der Wilson Familie war ein Künstler. Also, jeder, abgesehen von mir. Mein Vater war ein freiberuflicher Illustrator und Komikzeichner, meine Mutter war als Malerin eine eher traditionelle Künstlerin. Ava bestritt gerade ihr erstes Jahr auf der Kunstschule und Candace sowie Caleb gewannen bereits Kunstwettbewerbe im In- und Ausland. Und dann gab es noch mich, ja, ich, mein kleines, talentloses, sechzehn-jähriges Selbst, das ein Strichmännchen nicht einmal mit einem Lineal konstruieren könnte. Ich versuchte, meine Talentlosigkeit auszugleichen – seit ich denken kann, bin ich Klassenbester. Meine Familienmitglieder interessierte das aber scheinbar nicht wirklich. Sie lobten einander, ihre Erfolge und Fortschritte. Caleb stand dabei für gewöhnlich im Mittelpunkt. Ich verstand es nie. Caleb war nur ein Durchschnittsschüler, der sich mit mittelmäßigen Noten durchschlug. Er brachte nicht ausschließlich Bestnoten nach Hause, wie ich es tat. Viele Menschen sagten mir, dass meine Eltern mit meinen Leistungen sehr glücklich sein müssen, wenn sie nur die Wahrheit kennen würden. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich meine Eltern das letzte Mal im Publikum sah, während ich eine Debatte austrug oder ähnliches. Die Tatsache, dass meine Familie Kunstausstellungen oder gemeinsames Zeichnen in der Öffentlichkeit als Familienunternehmung betrachtete, half da nicht wirklich. Normalerweise blieb ich zu Hause oder beobachtete sie aus einer entfernten Ecke, während sie für ihre Werke Komplimente von Fremden bekamen. Komplimente wie „Es ist wunderbar, dass du das kannst!", „Was für eine talentierte Familie!"; und ich beobachtete nur aus der Distanz, wie sie gekonnt meine Existenz ignorierten. Meine Familie war bekannt, als die komische, mit Ausnahmetalenten gefüllte Familie von nebenan. Traurigerweise war ich nicht Teil dessen. Auch wenn ein Gewinner von Mathematik- oder Physikolympiaden sicher als solches Talent galt, war ich mir nicht so sicher, ob ich den Anforderungen entsprach, um wirklich als Wunderkind durchzugehen, wie es meine Geschwister taten. „Du hast aufgehört zu essen.", riss mich meine Mutter aus meinen Gedanken. Ich blickte sie an, ihr Gesicht nur erleuchtet vom gedimmten Licht im Esszimmer, fragte ich mich, woran sie dachte. „Ich bin satt.", murmelte ich, die Gabel ließ ich fallen, die ich zuvor locker gehalten hatte, bevor ich meinen Stuhl zurückschob und meine Blätter nahm. „Danke, für das Essen.", sagte ich zu meinen Eltern, bekam ein abweisendes Nicken meiner Eltern, das mir erlaubte zu gehen. Ich verließ das Wohnzimmer, stieg, die gerahmten Zertifikate und Kunstwerke an den Wänden musternd, die Treppen hinauf. Keine von meinen hing dort- von meinen Auszeichnungen. (Wir müssen an dieser Stelle keinen Witz über meine künstlerischen Fähigkeiten machen, oder?) Meine Auszeichnungen waren akademischer Natur und gehörten nach meinen Eltern wohl maximal in mein Zimmer oder ordentlich zusammengefaltet in einen Ordner. Es interessiert niemanden. Der Gedanke kam mir in den Kopf, als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Ich fragte mich, warum ich überhaupt noch versuchte, sie zu beeindrucken. Ich konnte das, was sie wollten, nicht und was ich konnte, war kein guter Ersatz, wenn es nach ihren Maßstäben ging. Noten, Schularbeit und akademische Erfolge interessierten sie nicht. Es ist ihnen egal, dachte ich erneut, als ich die Arbeitsblätter auf meinen Schreibtisch knallte. Verdammt, niemanden interessiert, dass ich ein Genie bin.

Das Genie [BxB] #1✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt