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Das Regenwasser überzog den Asphalt der Strassen, die Wolken hingen noch dicht über den Spitzen der Dächer. Die Hochhäuser Seouls schienen regelrecht im Nebel zu enden, als wäre selbst der Himmel kein Limit.

Ich knöpfte meinen Mantel zu, der Wind war in den letzten Stunden stärker geworden. Wenn ich keine gefütterten Taschen hätte, wären meine Finger längst eiskalt. Dieser Winter wollte nicht aufhören, es war lange kein Frühling in Sicht.

Ein paar Geschäftleute kamen mir entgegen, in diesem Firmenviertel nichts Aussergewöhnliches. Doch mit jedem Schritt entfernte ich mich von dieser strikten, geregelten Welt und kam dem Rebellenviertel näher. So nannte man es zumindest in höheren Kreisen.

Weshalb genau dieser Laden mich fasziniert hatte, wusste ich selbst nicht. Ich hatte einfach diesen Flyer an der Hauswand gesehen, diese beiden schwarzen Flügel, eine Nadel in der Mitte und darunter die Adresse. Kim Taehyung hiess er. Mir war sofort klar, dass ich dahin musste.

Mittlerweile hatte ich eindeutig genug von meiner Vergangenheit. Ich wollte nicht mehr darüber reden, nicht mehr daran denken, keine weitere Sekunde meines Lebens dafür verschwenden. Zu oft ging mir die Geschichte durch den Kopf, zu oft hat sie mir schlaflose Nächte beschert.

Das sollte nun ein Ende haben. Ich wollte endlich mit dem abschliessen.

Der Gehsteig wurde dreckiger, umso weiter ich mich von der Innenstadt entfernte. Kaugummis hafteten am Beton, Zigaretten schmückten die Gassen. Teilweise lagen Plakate am Boden.

Die Läden veränderten sich, Ramschläden, Wahrsagerinnen und Piercingstudios säumten die Wege. Eine Gruppe Jugendliche sass am Boden, rauchte und spielten auf einer Gitarre, ihre Haare waren bunt gefärbt, Tattoos verzierten ihre Oberkörper.

Mir war es nach wie vor fremd, solche Zeichnungen auf der Haut zu tragen. Doch trotzdem war ich nun auf dem Weg, um mir genau so ein Kunstwerk machen zu lassen. Niemals hätte ich gedacht, ich würde je gegen die strikten Regeln meiner Eltern verstossen. Aber jetzt gerade verstiess ich gegen ihre Obersten.

Tattoos verabscheuten sie, Punk's, wie es viele hier gab, fanden sie Abschaum. Dieses Viertel war für sie die reinste Hölle. Mich kümmerte es schlichtweg nicht mehr. Für mich sollten sie heute Geschichte werden. Ich hoffte darauf, sie nacher in meinem Kopf als tot abstempeln zu können.

Diese Strasse folgte in eine weitere, ich kam meinem Ziel näher. Ein Bild des Tätowierers hatte sich längst vor meinem inneren Auge geformt. Ich stellte ihn mir sehr frei vor, als könnte ihn nichts unterkriegen.

Nervös war ich auf jeden Fall. Je näher ich dem Studio kam, desto schlimmer wurde es.

Ob ich das Richtige tat?
Aber wer wusste das denn schon. Man konnte morgens auch einen späteren Bus nehmen, mit der Meinung es würde ja nichts ausmachen. Und vielleicht hätte genau der frühere Bus einen Unfall gebaut. Somit hätte man an dem Tag das Richtige getan.

Jede Entscheidung unseres Lebens konnte man richtig oder falsch fällen, nie wusste man welche besser wäre.

Ich war bereit dieses Risiko einzugehen. Die Idee hatte sich viel zu sehr in meinem Kopf festgesetzt, um jetzt noch etwas dagegen unternehmen zu können. Ich war froh drum, so stur zu sein.

Meine Augen wanderten zum nächsten Strassenschild. Hier musste es sein. Ich liess meinen Blick über den leergefegten Platz schweifen und erkannte dann der kleine Laden, zwischen einer heruntergekommenen Bücherei und einem thailändischen Lebensmittelladen.

Man könnte ihn fast übersehen, wenn die breite Holztür nicht das grosse Markenzeichen des Studios tragen würde, gesprüht mit schwarzer Farbe. Ein Schaufenster erweckte zumindest den Eindruck eines Studios, darin waren jedoch nur Zeichnungen und Skizzen zu sehen.

Fasziniert ging ich auf das Fenster zu, musterte die Entwürfe. Sie alle zeigten etwas Unterschiedliches, mal ein Tier, mal ein Porträt oder eine einfache Blume. Aber sie alle hatten etwas gemeinsam, sie trugen diesselbe Handschrift. Er arbeitete lediglich mit feinen Strichen, sehr wenigen Schattierungen und stattdessen mit Pastellfarben. Ich fand keines, dass in Schwarz-Weiss gehalten wurde, aber auch keines, dass knallige Farben trug.

Ich verspürte das Bedürfnis, sie alle tagelang zu studieren und zu analysieren. Die Skizzen wirkten so, als übermittelten sie eine unausgesprochene Botschaft, die niemand entschlüsseln konnte. Somit war meine vorherige Frage beantwortet worden.

Das war ganz bestimmt das Richtige.

Entschlossen schritt ich auf die Tür zu und drückte die altmodische Klinke nach unten. Eine Glocke ertönte, als ich ein trat, der Geruch von Minze und altem Holz schlug mir entgegen.

Der Raum, der höchst wahrscheinlich als Empfangsraum diente, war ziemlich klein und grösstenteils schlicht gehalten. Zwei Sofas standen links in der Ecke, ein weisser Tisch mit Ordnern drauf vornedran. Eine antike Stehlampe erhellte den kleinen Schreibtisch rechts, auf dem ein Computer stand, der vermutlich als Kasse diente. Auf der Wand gegenüber wurde wieder das Symbol des Studios gesprayt, hier jedoch auf blutrotem Hintergrund. Eine kleine Tür führte zu einem hinteren Raum.

Ich wollte mich hinsetzen und die Skizzen studieren, als Schritte ertönten und kurz darauf ein junger Mann durch die Tür zwischen den Flügeln trat.

Seine Haare leuchteten rot, nur der Ansatz war dunkler. Er trug eine schwarze zerissene Jeans an der eine kleine Kette befestigt war, dazu Lederstiefel. Das rotkarierte Hemd war bis zur Brust geöffnet, damit man die darunter verbogenen Kunstwerke sehen konnte. Seine Unterarme, die wegen den hochgekrempelten Ärmeln sichtbar waren, waren übersät mit kleinen Zeichnungen. Auf seinem Handrücken erkannte ich jeweils einen Teil des Yin-Yang Zeichens. Seine Brust war bis zum Hals mit Tattoos geschmückt, die nicht seine Handschrift trugen. Sie zeigten ausgebreitete Flügel, geschmückt mit Rosen und Farbsprenklern, die bis zu seinen Schlüsselbeinen reichten. Sein Gesicht war verschont geblieben von der Tinte, auch wenn sie es wohl nicht weniger schön machen konnte. Noch nie in meinem Leben hatte ich jemand derartig hübsches gesehen. Seine Kieferpartie war wohlgeformt, die karamellfarbende Haut wirkte geschmeidig und hatte keinerlei Unebenheiten. Die roten Strähnen endeten oberhalb der Augen, so dass diese mir in ihrer vollen Pracht entgegen strahlten. Genau das, was ich vermutet hatte; Sie wirkten frei, rebellisch, vielleicht auch kämpferisch.

Ein leichtes Lächeln umspielte seine rosigen, perfekt geformten Lippen.

„Du musst Jungkook sein, ich bin Taehyung", sagte er mit engelsgleicher, unglaublich tiefer Stimme.

Unfähig mich von seinem Anblick zu lösen, nickte ich nur und widerstand dem Drang ihn zu bitten sich hier und jetzt auszuziehen. Ich würde unglaublich gerne seinen ganzen Körper mit all ihren Kunstwerken betrachten können.

„Na komm, wir gehen nach hinten. Dann kannst du mir erzählen, was du dir so vorstellst."

Taehyung lächelte wieder und schritt auf die Tür zu, woraufhin ich ihm mit zitternden Knien folgte. Der junge Tätowierer brachte alles in mir ins Schwanken, ich fühlte mich plötzlich unheimlich leicht und unwohl zu gleich.

Er faszinierte mich genauso, wie seine Zeichnungen es auch schon getan hatten.

tattoos | vkookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt