1 - Exodus

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Spät abends. 31. Dezember, 2299

Tristan liebte Silvester. Auf den Abschluss dieses Jahres freute er sich besonders. Denn nicht nur ein spektakuläres Holo-Feuerwerk und ein historisches Ereignis standen bevor, sondern auch seine persönliche Beförderung. Tristan Hennings, ein einfacher Beamter, würde zum landwirtschaftlichen Verwalter der Zone Asien befördert werden. Er grinste und strich sich den eleganten, kugelsicheren und vor allem teuren Karbonfaser-Mantel glatt. Doch der Stoff glitt ihm durch die Finger, als wäre er flüssig. Ein Glattstreichen war überflüssig. Das musste er sich abgewöhnen, er würde sonst unter der edlen Gesellschaft am Platz der Hoffnung dastehen wie ein Mensch unterer Klasse.

Bei seiner Celia jedoch würde niemand diesen Verdacht haben. Seine Frau war zwar etwas kleiner als der Durchschnitt, doch sie hatte eine schlanke Figur und ein süßes, intelligentes Gesicht. Tristan sah zu ihr hinüber. Sie war ebenso wie er leicht aufgeregt, aber das würde niemandem sonst auffallen. Sie hatte schöne lange Haare. Vor allem aber war es ihr freches, und dennoch charmantes Lächeln, mit dem sie fast alle Männer, und auch die meisten Frauen, verzauberte.

Es brummte. "Willkommen, Verwalter Hennings", tönte es aus dem Türinterface und die Stahltür glitt lautlos zur Seite. Ihm fiel vor allem auf, dass sein zukünftiger Rang schon der ZVI(Zentralen Verwaltungs-Intelligenz) einprogrammiert worden war. Dies erfüllte ihn mit mehr Enthusiasmus, als er zuzugeben bereit wäre. Tristan holte tief Luft, bevor er und Celia über die Schwelle traten. Der Platz vor ihm war weitläufig. Einige hundert Politiker, Prominente, Fernsehteams und reiche Bürger tummelten sich auf dem dunkelgrauen Granitboden. Streng genommen handelte es sich gar nicht um einen "Platz", denn sie befanden sich auf dem Dach eines etwa 30 Meter hohen Gebäudes. Abgesehen davon sprach jedoch nichts gegen die Bezeichnung, denn der berühmte Platz der Hoffnung war, bis auf die Menschen, völlig leer. Nicht mal einen Brunnen gab es.

Aber Tristans Enttäuschung darüber hielt sich in Grenzen, denn kaummischten er und seine Frau sich unter die Anwesenden, wurde er vomGeneralverwalter der Provinz Asien, Francis Zulan, persönlich begrüßt."Ah, guten Abend, Mister und Misses Hennings", begrüßte sie der baldschon mächtigste Mann der Erde in perfektem Terranisch. Während sich die Händegeschüttelt wurden, verfolgten einige Kameras das Geschehen aufmerksam.

*

Mia verfolgte die "Unterhaltung" Zulans mit dem zukünftigen landwirtschaftlichen Verwalter Asiens im Fernsehen. Der Blondschopf Mr. Hennings, obwohl sie noch nie zuvor etwas über ihn gehört hatte, wirkte irgendwie sympathisch wie er nur dort stand und etwas dümmlich lächelnd nickte. Allerdings glaubte sie längst nicht mehr daran, dass sich hinter diesem sympathischen Eindruck ein sympathischer Mensch befand. Die Jurastudentin verschlang den Rest ihrer Bohnensuppe und ging zum Fenster. Die Hitze Brasiliens schlug ihr entgegen, als sie es öffnete. Die Straßen waren fast leer, nur eine einzige Sicherheitsdrohne surrte die Häuserreihen entlang. Sie projizierte Holo-Bilder, die von dem bevorstehenden historischen Ereignis kündeten. Im Fernsehen war von einem Ende des Hungers die Rede. Mia glaubte nicht an all dies. Anders als die meisten ihrer Mitmenschen, die sich entweder in einem der Raumschiffe befanden oder sich lokal versammelt hatten, war sie an diesem Tag alleine in ihrer Wohnung geblieben.

Achja, Hunger. Mia ging zum Kühlschrank. Doch als sie die Tür öffnete,schreckte sie zurück. Der ekelhafte Gestank verdorbenen Essens wehte ihrentgegen. Da fiel ihr ein, dass es in der Nacht wieder einen Stromausfallgegeben hatte. Schon seit Monaten passierte dies ständig, da sämtlicheFusionskraftwerke der Welt darin beteiligt wurden, Energie für die schwarzen Löcherder Raumschifftriebwerke zu erzeugen. Macht nichts, dachte Mia, und weil ihrdiese kurzfristige Lösung gerade am besten passte, schlug sie dieKühlschranktür einfach wieder zu und ging zurück zum Fenster, um eine StangeCannabis zu rauchen. Plötzlich flog eine Sicherheitsdrohne vorbei. Sie surrteans Fenster, und ihre Kamera richtete sich auf die junge Frau. Mia regte sichnicht. Ein paar Momente standen sich Mia und der metallene Kontrolleurgegenüber. Dann gab die Drohne einen "Bip" von sich. Sekunden späterhielt Mia einen Bußgeldbescheid in der Hand. Wegen Falschparkens. Nervig,dachte Mia. Macht aber auch nichts. Sie lächelte und winkte der Drohne, alsdiese wieder davon schwirrte.    

*

"Ist es nicht ein Privileg, an solch einem historischen Ereignis teilhaben zu können? Die Menschheit macht sich auf, das Universum zu erobern, eine neue Heimat zu errichten... in einem gigantischen Kreis um diesen Platz der Hoffnung befinden sich die Startlöcher aller zweihundertsiebzig-tausend Generationenschiffe. Ein Drittel aller Menschen wird mit ihnen diesen Planeten verlassen. Ist das nicht unglaublich?", Tristan nickte nur eifrig und etwas überfordert, während er überschlug, wie viele Menschen sich wohl in einem einzelnen Schiff befanden. Er war sich bewusst, dass Zulan lediglich die Chance für eine Ansprache nutzte, jedoch genoss Tristan die Aufmerksamkeit. Celia lächelte nur höflich. "Zwölfmilliarden Menschen!", fuhr Zulan fort "und wir, sie und ich, sind mittendrin, im wahrsten Sinne des Wortes. Ein gewaltigeres Feuerwerk, um das neue Jahrhundert zu beginnen, kann man sich kaum vorstellen. Der Mut der Pioniere kommt zudem uns Zurückbleibenden zugute, denn mit weniger Menschen auf der Erde werden die globale Hungersnot, die Ressourcenknappheit, das Energieproblem und viele weitere Probleme viel besser zu bewältigen sein." Den letzten Satz betonte der Politiker. Dass um den Platz der Hoffnung ein riesiger, radioaktiv-verseuchter und für Jahrtausende unbewohnbares Gebiet entstehen würde, verschwieg er jedoch selbstverständlich.

Nach dieser Ansprache wurde Tristan nur kurz zu seiner bevorstehendenBeförderung gratuliert, bevor sich der Generalverwalter wieder seinenursprünglichen Gesprächspartnern zuwandte. Tristan war wieder alleine mitCelia. Sie zuckte nur mit den Schultern, und Tristan beschloss, sich ein wenigmit seinen zukünftigen Amtskollegen zu unterhalten.    

*

Terry Hillman starrte auf den Bildschirm über seinem Kopf und verfolgte die aktuellen Geschehnisse. Er atmete tief durch. Bereits seit Stunden lag sein Körper in einer winzigen, luftdichten Glaskammer, angeschlossen an Sensoren und Schläuche, umgeben von Computern und anderen technischen Geräten. Ärzte und Wissenschaftler bereiteten ihn auf den längsten Schlaf in der Geschichte der Menschheit vor. Terry war vollgepumpt mit Drogen, um den Blutdruck zu senken, seine Lebensfunktionen langsam herunterzufahren und um die damit verbundenen Schmerzen zu lindern. Sechzig Jahre sollte er in Kryostase verbringen, ohne zu altern. Dumpf hörte er einen Reporter den Beginn des "großen Countdowns" verkünden. Fast gleichzeitig ertönte eine weibliche Computerstimme: "Initialisiere Phase 3 von 6 in t minus zwanzig, neunzehn, achtzehn ..." Ob er seine alten Freunde wiedererkennen würde in sechzig Jahren? Ob sie noch leben würden?

Ähnlich wie Terry ging es fast Zehnmilliarden. Der Großteil der Menschenauf den Generationenschiffen sollte sich nämlich während der Reise in Kryostasebefinden. Dabei sollten sich die "Wachen" zyklisch mit den"Schlafenden" abwechseln. Es versprach spannend zu werden. Aber auchgefährlich. Terry lächelte. Das war ihm allemal lieber als sein bisherigesDasein: ein Dahinsiechen auf einem für menschliches Leben zunehmendungeeigneteren Planeten, ein täglicher Kampf sowohl um das nackte Überleben,aber auch um gesellschaftliche Anerkennung. Doch dies, so dachte Terry, sollteder Vergangenheit angehören, und er schloss zufrieden seine Augen.    

*

Während nun Tristan, Celia und die Machteliten der Erde mit einstimmten in den Countdown zu einem neuen Jahrhundert, während Mia ihren Kühlschrank ausräumte, zählte die Computerstimme in Terrys Kammer unerbittlich runter ... 5, 4, 3, 2, 1... Am Platz der Hoffnung wurde das Holo-Feuerwerk unter Jubel eröffnet, Mia aß eine noch essbar erscheinende Salamischeibe und Terry begann unter dem Einfluss des hereinströmenden Narkosegases seinen langen Schlaf...

Red Earth - SeparationWhere stories live. Discover now