Sechs

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Ich schloss die Augen kurz, während ich mich langsam wieder zu meiner besten Freundin umdrehte.

Das durfte doch wohl jetzt nicht wahr sein.

Klar, ich hielt oft ihr gegenüber Vorträge, dass sie ruhig auch mal einen Typen toll finden durfte. Das hatte den Grund, dass sie dieses Liebesthema gerne abstritt und sich dafür dann immer wieder bei Filmabenden aufregte, warum sie nicht auch so eine kitschige Liebesgeschichte wie in den Filmen erleben durfte.

Mit Evan brauchte sie sich da nicht allzu große Hoffnungen machen.

Generell hatte ich wirklich noch nie gehört, dass Evan Price schonmal eine Freundin hatte. Vielleicht in der Middleschool? Wobei, da auch nicht. Wir beide sind nebeneinander, ja fast praktisch indirekt miteinander aufgewachsen und dieser Kerl hatte echt noch nie eine Freundin.

Meine Mundwinkel wanderten noch ein Stück weiter herunter, als mir eine Erinnerung vor etwa einer Woche einfiel.

Mitten in der Nacht, zu der Zeit wanderte ich wieder in der Küche herum und suchte mir etwas Essen zusammen, war ich mal wieder ein widerwilliger Zuschauer bei seinen nächtlichen Aktionen. Aus unserem Küchenfenster konnte ich heraus auf unsere Einfahrt schauen und auch den Vorgarten der Price teilweise einsehen.

Unsere wunderbare abgrenzende Hecke fing nämlich erst ab Höhe unserer beiden Wohnhäuser an, um die Sicht in die Fenster an der Seite und in unserem Garten hinter dem Haus zu versperren.

Jedenfalls knallte da aufeinmal die Tür, in dem Moment hätte ich fast meine Cornflakesschüssel vor Schreck fallen lassen, und ein Mädchen stürmte aus dem Nachbarhaus. So viel ich im Licht der Straßenlaterne erkennen konnte, ging sie glaube ich auch auf unsere Schule. Wie sollte es auch anders sein, kam Evan auch aus dem Haus und wollte auf sie zugehen.

Wollte ist das richtige Wort.

Er kam vielleicht einen Meter an ihr heran, da trat sie vor, holte mit der einen Hand aus und gab ihm eine gehörige Backpfeife.

Eine ziemlich laute  Backpfeife.

Da unser Küchenfenster nur angelehnt war, konnte ich auch verstehen, wie sie zu ihm aus voller Wut Arschloch zu zischte. Dann machte sie kehrt, stieg in ihr Auto ein und bretterte los, ohne Rücksicht auf Verluste.

Evan nahm das aber ganz gechillt. Dieser Idiot winkte ihr sogar noch hinterher, ehe er sich auch abwandte, flüchtig über seine Wange rieb und leise pfeifend Richtung Haus schlenderte.

Und sowas kam nicht selten vor.

Immer, wenn ein Auto am späten Abend bei den Price vor der Tür stand, konnte ich mir ausrechnen, dass in der tiefen Nacht laut wegdüsende Auto zu der Besitzerin gehörte, die bei Evan zu Besuch war.

Dreimal war ich bis jetzt widerwillig Zuschauer am Küchenfenster. Vor einem Jahr ungefähr, dann vielleicht vor fünf Monaten und dann der Vorfall vor einer Woche.

Ich weiß nicht, musste sich denn Ruby unbedingt Evan aussuchen?

Evan?

"Ruby?", versuchte ich sie von diesem Typ mit den braunen Locken und dem verruchten Grinsen abzulenken.

Sie zuckte nichtmal zusammen.

Keine Ahnung, wie oft ich an diesem Tag schon seufzen musste, aber genau in diesem Augenblick musste ich es wieder. Es ging nicht anders und unterdrücken, ich meine, wozu? So eine aussichtlose Situation forderte gerade dazu auf.

"Ruby?", versuchte ich es nochmal, jedoch verschwand dieser träumerische Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht. Wenigstens blinzelte sie jetzt wieder.

Schritte hinter mir.

The ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt