Kapitel 2

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Thore

Es war angenehm warm, die Luft war frisch und schmeckte leicht salzig. Über meine Haut strich ein leichter, angenehmer Windzug, der Himmel über mir war wolkenlos blau und die Palmen, die über den Steilhängen leicht schief gewachsen waren, spendeten mir angenehmen Schatten. Das leise, zarte Rascheln der riesigen Palmblätter mischte sich mit dem Rauschen und Klatschen der Wellen, die unter mir immer wieder gegen die Steilküste schlugen und wieder zurückflossen. Eine ewige Melodie, in einem so herrlichen Paradies. So wunderschön… Ich genoss die Zeit und nahm alles in mir auf. Ich wusste, dass ich hier Kraft gewann. Dass ich in so Momenten ‚auftanken‘ konnte. Und das war, was ich dringend tun musste, denn ich hatte schon genügend Grauenhaftes erlebt. Daran, dass irgendwann alles gut werden würde, wie mir früher so oft eingetrichtert wurde, glaubte ich schon lange  nicht mehr, genauso wie ich wusste, dass der Spruch „Wenn du in der Grube sitzt, kannst du nicht weiter fallen“ überhaupt nicht zutraf. Irgendwie konnte sich doch immer noch ein Spalt im Boden auftun, das wusste ich aus eigener Erfahrung. Man könnte jetzt vielleicht denken, ich sei Pessimist. Ich glaube aber, dass das nicht der Fall ist. Ich denke, ich versuche lediglich, realistisch zu sein und nicht durch unberechtigten Optimismus enttäuscht zu werden, denn Enttäuschungen habe ich oft genug erfahren und ehrlich gesagt hab ich davon wirklich die Nase voll. Mit diesen Gedanken beendete ich das Thema vorerst, denn diese wunderschöne Landschaft hier, diese himmlische Melodie und dieses fantastische Paradies, muss man genießen. Sie sind zu wertvoll, um mit solch trüben Gedanken überdeckt zu werden. „'O ka hau'oli me ka malu i loko. Aloha Au ia 'Oe“ flüsterte ich leise und meinte damit dieses ganze Paradies, das mich gerade umgab. „Aloha Au ia 'Oe“ sagte ich noch einmal, dann setzte ich mich in der Hängematte auf, schaukelte ein wenig hin und her und sah an den Felsen nach oben. Dabei schwoll meine Brust vor Stolz um ein paar Zentimeter an und ich begann zu grinsen. Was für ein wundervoller Ort. Und nie würde ich hier gestört werden. Denn hier hin kam man nur wenn man ein sehr guter Kletterer war. Und wenn man unerschrocken war und auch gerne ungesichert kletterte. Denn hier konnte man kaum einen guten Standplatz errichten. Außerdem war der Ort nicht bekannt, und würde es wohl auch nie werden. Hoffte ich zumindest. Erneut glitt ein Grinsen über mein Gesicht. Ja, verrückt war ich schon irgendwie. Mit einem großen Rucksack auf dem Rücken und ungesichert zwanzig Meter eine Steilküste hinunterklettern, auf einem Vorsprung, der nicht breiter als 50 Zentimeter ist, die Hängematte auspacken und an dem Vorsprung befestigen und anschließend mit dem anderen Ende in der Hand auf die andere Seite der schmalen Felsenbucht zu klettern. Nein, das ist wirklich verrückt. Lebensmüde, so würde man mich wohl bezeichnen, wenn irgendjemand hiervon wüsste. Nun erwischte ich mich schon zum dritten Mal für diesen Abend dabei, wie ich breit grinste. Erneut riss ich mich aus meinen Gedanken und sah aufs Meer hinaus, während ich weiterhin vorsichtig die Hängematte hin- und herschaukeln ließ und dieser Melodie des Windes und der Wellen lauschte. Ich beobachtete gebannt die Sonne, sie war nicht mehr weit vom Meer entfernt. In wenigen Minuten würde sie untergehen. „Aloha Au ia 'Oe, pukana la. Komm nur, ich warte auf dich.“, flüsterte ich gespannt. Und dann berührte die Sonne das Meer. Ok, zumindest sah es so aus. Immer weiter versank sie im Meer und verbreitete ein orangenes, warmes Licht. „U’i“ wisperte ich. Doch lange dauerte dieses bezaubernde Schauspiel nicht, der Himmel wurde schnell dunkler. Ich liebte Nächte und wäre am liebsten weiterhin sitzen geblieben, doch ich wusste, dass das endgültig lebensgefährlich gewesen wäre. Gut, mein Leben war extrem gefährlich und zugegebener Maßen gebe ich mir selten Mühe, ungefährlicher zu leben, aber dennoch kenne ich meine Grenzen. Und ich weiß, dass ich nicht in völliger Finsternis diese Steilküste wieder bezwingen könnte. Und die Nacht hier verbringen… Nein, das ist zu gefährlich. Also beeilte ich mich, wieder an die Felsen zu kommen und die Hängematte abzuhängen. Als ich alles verstaut hatte, sah ich schon fast nichts mehr. Jetzt musste es schnell gehen. Ich drehte mich noch einmal kurz in Richtung des Meeres und sog die klare, inzwischen kühlere Luft tief ein, dann suchte ich mit den Händen Halt an den Wänden. Ich kletterte nun nur noch strikt nach der 3-Punkte-Regel, das heißt, immer mit 3 Punkten (Hände und Füße) an der Wand und nur eine Hand oder einen Fuß bewegen. Das kostet Zeit, ist aber sicherer. Und auf meine Augen war nun wirklich nicht mehr viel Verlass. Ich versuchte, mich nah an die kühlen Felsen anzuschmiegen und mich mit meinem Körperschwerpunkt möglichst nah an der Wand zu befinden, um einen möglichst geringen Kraftaufwand zu haben. Immer wieder ermahnte ich mich, step-by-step (Schritt für Schritt) zu klettern und nichts zu überstürzen. Ich hatte es nicht mehr weit, vielleicht noch zehn bis fünfzehn Meter, doch inzwischen war es stockfinster. Über mir funkelten zwar die Sterne, aber ihr Licht war zu schwach und der Mond, der normalerweise noch ein wenig Sonnenlicht auf die Felsen reflektierte, war nicht in Sicht. Natürlich, heute Nacht war ja auch Neumond, was ich total vergessen hatte. Für wenige Sekunden verharrte ich an einer Stelle und hätte mich am liebsten erst mal über meine Zerstreutheit aufgeregt, doch ich wusste, dass mir ungesichert keine Zeit zum Pausieren blieb. Also versuchte ich weiterhin, die steile Felsenwand zu erklimmen. Mit der freien Hand strich ich vorsichtig über die Wand über mir, um geeignete Risse und Griffe zu finden. Ich versuchte, mir die Oberfläche zu merken, um den gefunden Halt auch mit den Füßen nutzen zu können, wenn ich weiter oben war. Eine Zeit lang kam ich mit dieser Technik gut voran, doch irgendwann kam ich nicht mehr weiter. „Ruhig“ ermahnte ich mich, schloss die Augen für wenige Sekunden und atmete erneut tief durch. Dann warf ich alle Sicherheitsregeln über Bord, zog mich an die Wand, zog meine Füße näher zu den Händen und stieß ich mich dann mit den Füßen aus meiner Position ab, ließ im selben Moment mit den Händen los und hoffte, dass ich den tiefen, stabilen, gut bekannten Riss, der hier irgendwo sein musste, erwischen würde.

Glück gehabt. Ich hatte mir zwar bei der Aktion mal wieder die Fingerkuppen aufgeschürft und war mit dem rechten Knie gegen einen  kleinen, spitzen Vorsprung gestoßen, aber das würde heilen. Und ich lebte noch. Das war die Hauptsache. Die letzten zwei Meter waren ein Kinderspiel, dann zog ich mich eilig auf die Ebene, wobei ich mir noch einmal die Schulter auf schrappte, aber das spürte ich in dem Moment nicht einmal mehr. Ich war einfach heilfroh, dass ich noch am Leben war. Ich rollte mich auf den Rücken und beobachtete noch ein paar Sekunden den klaren Sternenhimmel, dann sprang ich auf und lief los, weiter ins Landesinnere. Wenigstens ein bisschen. Irgendwo, wo dichter Wald war. Dort würde ich für heute Nacht mein Lager aufschlagen und mich morgen wieder dem Ernst des Lebens zuwenden.

Lani - Aloha olaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt