Kapitel 4

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Kanoa
‚Die sind doch alle verrückt', dachte ich mir wütend. Nachdem man mich nun ein paar Wochen mit Neuroleptika vollgepumpt hatte, ließen meine Wahnvorstellungen nach. Auch dieser ganze Therapie-quatsch half mir in gewisser Weise schon. Dennoch ändert das nichts daran, dass ich immer schon nur wenigen Menschen vertraute. Und Kanoa hatte man mich genannt. Ich war ja schon immer genauso fasziniert von Hawai'i, wie meine Schwester, insofern hatte ich nichts dagegen, einen hawaiianischen Namen zu tragen. Aber mich Kanoa zu nennen, das passte ja gar nicht. Denn Kanoa heißt „frei". Und frei, das war ich selten. Wütend sah ich durch das kleine Fenster. Gitterstäbe. Tja, so ist das wohl in einer Psycho-Anstalt. Und meine kleine Kalea hatten sie mir auch genommen. Mist, ich hätte nicht an sie denken sollen. Jetzt machte ich mir wieder Vorwürfe. Ich hatte sie geschlagen. Inzwischen wusste ich auch, dass die Stimmen nicht real gewesen waren und der Verfolgungswahn unbegründet war. Ich wusste auch, dass es einfach eine Krankheit war, weshalb ich Kalea geschlagen hatte, aber dennoch, sie war immer für mich da. Ihr richtiger Name, Liv, der soviel wie Leben, Schutzschild bedeutet, auch wenn ich nicht mehr weiß aus welcher Sprache er stammt, passt eigentlich auch perfekt. Aber sie hat mir immer viel mehr geschenkt, als nur Schutz und sie mochte Hawai'i. Sie fand es, auch wenn sie das nie offen zugegeben hätte, immer fies, dass sie keinen hawaiianischen Namen trug. Seit ich dann zufällig auf den Namen Kalea stieß, nannte ich sie so. Es passte irgendwie. Und sie fand es auch super. Und jetzt war sie auf der anderen Seite der Welt und ich konnte nicht zu ihr. Ob sie mich wohl vermisste? Wütend schlug ich gegen die Wand. Ich klang ja schon wie ein Mädchen. Vielleicht sollte ich mich mal über diese Neuroleptika informieren. Wer weiß, was das Zeug für Nebenwirkungen hat... In dem Moment ging die Tür auf und irgendein Psychotherapeut oder Pfleger oder was weiß ich was das jetzt wieder für einer war, betrat den Raum. „Hallo Kanoa. Es ist Zeit, mal wieder ein bisschen die Sonne zu genießen. Du weißt ja schon wie das funktioniert, wir gehen jetzt einfach für eine halbe Stunde in den kleinen Garten, dann bringe ich dich wieder hier her" sagte er. Er war noch nicht lang dabei, dass sah man dem Typ an. Er wirkte nicht gerade sicher, aber das war mir egal. Ich hatte nicht vor ihn umzulegen. Aber diese Umgangsformen waren ja unmöglich. Ich denke, mit 21 sollte man nun wirklich das Recht haben, gesiezt zu werden. „Sie han au koa Ahnung von Höflichkeit, oder? Schon mal was von „Sie" gehört?" schimpfte ich wütend und absichtlich mit einem richtig blöden Dialekt, vor mich hin, während ich aufstand und ihm entgegentrottete. Er wich zwei kleine Schritte zurück und brachte dann mit einer zittrigen Stimme „Verzeihen Sie bitte" heraus. Dann drehte er sich um und ging nach unten, ich folgte ihm mit einigen Metern Abstand. In dem kleinen umzäunten Garten, der einzige Ort außerhalb der Klinik, den ich bisher betreten durfte, stand wie immer ein Tisch mit zwei Bänken, doch ich steuerte auf den Apfelbaum zu, der zentral auf der Rasenfläche stand. Eilig schwang ich mich von einem Ast zum nächsten und machte es mir dann auf einem der kräftigen Äste bequem. „Aloha Au ia 'Oe, Kalea" sagte ich in Richtung Sonne. Natürlich glaubte ich nicht, dass so etwas wie Telepathie funktionierte, außerdem musste es in Hawai'i gerade Nacht sein, aber irgendwie musste ich das einfach einmal sagen. Leise begann ich eine Melodie zu summen, die sie mir irgendwann einmal völlig stolz auf ihrer Violine vorgespielt hatte. Sie war damals sieben Jahre alt gewesen, und es waren drei Tage vergangen, seit unser Onkel gestorben war. Bis heute weiß ich nicht recht warum, aber er war für uns immer so etwas wie ein kleiner Halbgott. Gemeinsam hatten wir getrauert und uns in diesen drei Tagen nur losgelassen, um zu essen oder zu schlafen, den Rest der Zeit hatten wir uns gegenseitig festgehalten. Und an diesem vierten Tag hatte meine kleine Kalea dann ihre Violine gepackt und mir ganz spontan ein Lied vorgespielt. Es war das erste und soweit ich weiß einzige Lied, dass sie komponierte und sie spielte einfach drauf los, ohne lang zu überlegen. Die Melodie hatte etwas Trauriges, aber auch irgendetwas Hoffnungsvolles. Es ist unmöglich, diese Melodie zu beschreiben. Ich glaube, dafür bedeutet sie mir einfach zu viel. Anschließend hatte sie mir noch gesagt, diese Melodie sei ihr Dank für meine Unterstützung. Immer noch sah ich ihr kleines Gesicht mit den großen Augen vor mir, die reine Dankbarkeit und Liebe ausstrahlten, wenn ich daran zurück dachte.

Lani - Aloha olaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt