Guren starrte auf den Boden. Vielleicht sollte er noch warten? Doch wie lange? Er wusste nicht, wie viel Zeit bereits vergangen war, seitdem er hier saß. Für ihn kam es jedenfalls vor wie Stunden, aber wahrscheinlich waren es nur Minuten gewesen. Doch eins war ihm klar: Sollte keine Hilfe kommen, was höchstwahrscheinlich der Fall war, musste er sein Leben beenden, bevor er diesem ‚Boss' übergeben werden würde. Guren hatte zu viel Wissen. Niemand durfte es bekommen. So wurde er ausgebildet und so würde er handeln.
Suchend sah er sich um. Abgesehen von seinem Schwert, war nichts zu finden, was er notfalls benutzen könnte. Die Vampire schienen sich gerade in einer hitzigen Diskussion zu befinden und achteten nicht auf ihn. Vorsichtig rutschte er zwischen seinen Armen durch. Nachdem er die Beine auch durchgezogen hatte, hatte er schließlich seine Hände vorne. Ein Blick auf die Vampire verriet ihm, dass diese nichts mitbekommen hatten. Mittlerweile schienen sie nicht mehr nur zu diskutieren, sondern stritten sich richtig.
Guren krabbelte zu seinem Schwert, klemmte die Scheide zwischen die Beine, nahm den Griff zwischen die Zähne und hob die Schneide etwas hoch. Schnell hob er das Seil, welches seine Hände fesselte, an die Klinge und zerschnitt es.
Erleichtert rieb er seine Handgelenke. Wenn er jetzt noch die Fußfesseln lösen würde, könnte er vielleicht doch noch fliehen.
Sein Blick schweifte, über das Lager hinweg, wieder zu den Vampiren. Selbst wenn er sich komplett befreit hätte, wusste er nicht, ob er gegen die drei ankommen würde. Er hatte zwar seine Waffe, doch kannte er nicht den genauen Zustand seines Körpers. Doch einen langen Kampf gegen mehrere höhere Vampire würde er auf keinen Fall gewinnen. Vielleicht könnten sie ihn aber im Eifer des Gefechts töten, was ihm tatsächlich zu Gute käme. Aber war er zu feige sich selbst umzubringen, und so das Risiko einzugehen, vielleicht nicht getötet zu werden. Nein! Das ließ sein Stolz nicht zu. Wenn er schon sterben muss, dann starb er lieber durch seine eigene Hand.
Guren nahm sein Schwert und drehte die Spitze zu sich. Er war so konzentriert, dass er nicht einmal bemerkte, wie die Fürsten angefangen hatten, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Der Oberstleutnant holte nochmal tief Luft und stach zu.Rotes Blut tropfte auf den Boden.
Guren öffnete die Augen, welche er im letzten Augenblick geschlossen hatte, und starrte auf die Hand, welche die Klinge umfasste und somit seinen Selbstmord verhindert hatte.
„Was?", fragte er verwirrt und sein Blick wanderte nach oben.
Blau funkelnde Augen sahen ihn belustigt an.
„Du gibts aber schnell auf, Oberstleutnant."
„Da sind wir ja gerade rechtzeitig noch gekommen."
Guren drehte seinen Kopf und starrte nun Goshi entgeistert an.
„Yo, Captain, was geht?"
Der Schwerkämpfer senkte seine Waffe und sah seine Retter wütend an.
„Was macht ihr beiden hier? Ihr bringt euch in Lebensgefahr nur um mich zu retten!"
Doch anstatt seinem Blick auszuweichen, starrte Shinya zurück.
„Wir haben nicht viel Zeit. Wer weiß wie lange Goshis Illusion noch wirkt. Und um deine Frage zu beantworten, wenn du nicht mehr da bist, bei wem soll ich dann abhängen?"
Guren schnaubte und ergriff die noch heile Hand Shinyas, welche dieser ihm hinhielt.
„Nerven, meinst du wohl eher."
Sein weißhaariger Freund lachte leise und zog ihn hoch.
Erst jetzt bemerkte er die dünnen lila Schwaden, die sich durch die Luft bewegten. Als sich Guren umdrehte, erkannte er ein zweites Ich, welches dort auf den Boden saß, wo er vorher noch gesessen hatte.
„Ja, wir sollten wirklich los."Shinya war erleichtert, dass er rechtzeitig gekommen war, bevor sein Freund sich umbringen konnte. Dieser war immer so voreilig. Kopfschüttelnd schlich er hinter Guren und Goshi von dem Lager weg. Glücklicherweise waren die höheren Vampire so damit beschäftigt gewesen, sich gegenseitig zu bekämpfen, dass sie ihre Präsenzen gar nicht bemerkt hatten. Die anderen Blutsauger waren zu schwach, als dass sie die drei Menschen durch Goshis Illusion hätten bemerken können.
Bevor das Lager aus ihrem Sichtfeld verschwand, drehte sich der Scharfschütze noch einmal um und betrachtete den falschen Guren, der immer noch bewusstlos auf den Boden saß.
Ein neuer Freund.
Ein toter Freund.
Ein neuer...
Seine alten Gedanken hallten in seinem Kopf wieder. Wie lange war das jetzt wohl her? Fast 15 Jahre? Shinya schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben. Damals war er anders gewesen. Jung und naiv. Er hatte als letztes überlebt, sich für den Größten gehalten und dann Mahiru kennengelernt. Gegen sie hatte er das erste mal in seinem Leben verloren und obwohl sie seine offizielle Verlobte gewesen war, hatte er sein restliches Leben nur als Deckmantel gedient. Der Scharfschütze erinnerte sich, wie er um das Mädchen kämpfen wollte, sie für sich gewinnen wollte. Doch mittlerweile wusste er nicht mehr, ob es wegen der Hiragi war, oder ob er einfach nicht gegen ihren Liebhaber verlieren wollte. Denn für ihn bedeutete ,verlieren' sterben. Dennoch hatte er irgendwie von Anfang an gewusst, dass er gegen Guren keine Chance gehabt hätte. Und doch haben am Ende beide verloren.
„Shinya, was ist?"
Goshis ungeduldige Stimme unterbrach seine Gedanken. Der Hiragi riss sich von Gurens Abbild los und folgte wieder dem Echten. Er betrachtete dessen Schwert und biss sich unbewusst auf die Lippen. Er wusste ganz genau wer oder besser gesagt was sich in diesem befand. Hatte er letztendlich doch gegen seinen Freund verloren?
Sein Freund?
Für wie lange noch? Würde dieser nicht auch früher oder später sterben, so wie alle anderen Freunde es getan haben? Was tat er hier eigentlich?
Shinyas Gedanken jagten sich im Kreis, sodass er gar nicht mitbekam, dass sie die Motorräder erreicht hatten.
„Shinya, sicher, dass es dir gut geht?"
Die leicht besorgte Stimme des Oberstleutnant zog den Scharfschützen aus seinen Gedanken wieder in die Realität. Er nickte leicht und bestieg sein Fahrzeug. Guren setzte sich hinter ihn und Goshi nahm sein eigenes.
„Kann es losgehen?", fragte letzterer und startete den Motor.
Shinya nickte und sie fuhren los.
Da die Truppen sich wahrscheinlich bereits zurückgezogen hatten, nahmen sie den Weg direkt zum Hauptquartier.
Unterwegs sagte keiner ein Wort, bis Guren das Schweigen brach.
„Ihr müsst mir jetzt echt verraten, wie ihr es geschafft habt, Kureto zu überzeugen, sodass ihr mich retten durftet."
„Nun ja, eigentlich...", fing Norito an, doch ein warnender Blick Shinyas ließ ihn innehalten. Dann lachte der Scharfschütze und antwortete:
„Tja, jeder hat so seine Tricks. Aber wichtig ist jetzt nur, dass du noch lebst und in Sicherheit bist."Guren schmunzelte.
„Naja, Sicherheit ist so eine Sache..."
Der Schwertkämpfer hielt sich an seinem Freund fest und so konnte er zu seiner Überraschung spüren, wie sich dessen Körper kurzzeitig anspannte. Er wusste wirklich nicht, was mit Shinya los war. Dieser verhielt sich in letzter Zeit ziemlich seltsam. Ob das immer noch was mit dem Vorfall vor einigen Tagen zu tun hatte? Er hielt es für wahrscheinlich. Aber ihm war allgemein aufgefallen, dass Shinya seine entspannte und fröhliche Art mit der Zeit immer mehr verlor. Er schien oftmals in Gedanken versunken, er hielt sich abseits von dem Rest des Teams und seine perfekte Maske fing an zu zerbrechen. Den anderen war das noch nicht aufgefallen, aber Guren machte sich langsam richtige Sorgen um den Scharfschützen.
Als sie am Hauptquartier ankamen, war der Vorplatz noch total überfüllt von Soldaten. Sie brauchten nicht lange um die andere Hälfte von seinem Team zu finden. Der Oberstleutnant hob beschwichtigend die Arme, als die Frauen alle fast anfingen zu weinen, nachdem sie ihn erkannt hatten. Selbst Shigure schien Probleme zu haben nicht gleich in Tränen auszubrechen.Lächelnd beobachtete Shinya die Wiedervereinigung des Teams. Die fünf waren wirklich gut befreundet.
Er drehte sich weg und betrachtete das große Gebäude, welches sich bedrohlich vor ihm aufbaute. Shinya seufzte. Er hatte auch noch eine Wiedervereinigung vor sich, doch diese würde bei weitem nicht so fröhlich und rührend ausfallen. Er holte tief Luft und ging dann ohne die anderen auf sich aufmerksam zu machen, in das Hauptquartier. Ob und wie er dieses wieder verlassen würde, wusste er nicht. Doch vermutlich würde er das früher als ihm lieb war erfahren.
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Gureshin ~ Leben oder Überleben
FanficZwei Freunde in einer Welt aus Chaos, in einer Welt, die nur aus Krieg besteht. Und so sehr sie sich auch auf die Gegenwart konzentrieren, die Vergangenheit holt einen immer ein. [Pairing: Guren x Shinya]