Fremd

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Langsam hebe ich nun mein Gesicht. Den Blick geradeaus gerichtet, starre ich in einen Spiegel. Zurück blickt eine mir fremde Person.
Sie hat dieselben Haare, dieselben Augen, das gleiche Gesicht, die gleiche Ausstrahlung wie ich. Und doch ist sie anders. Diese Person im Spiegel.
Es ist ein befremdliches Gefühl sie so anzusehen. Komisch. Verwirrend.
Wer ist diese Person nur? Und warum steckt sie In MEINEM Spiegelbild? Denn das kann unmöglich ich sein. Es geht nicht. Es kann nicht sein. Also wer ist es nur, der mich so ansieht? Mit meinen Augen, meinen Haaren, meinem Gesicht und meiner Ausstrahlung.
Und wenn ich recht darüber nachdenke, dann habe ich diese Person auch schon öfters im Spiegel gesehen. Dann hat sie mir, genau wie jetzt, entgegen gesehen. Nur jetzt denke ich das erste Mal über sie nach.
Ich mag diese Person nicht. Sie sieht aus wie ich, hat meine Augen, meine Haare, mein Gesicht und meine Ausstrahlung und ist doch so befremdlich. Abschreckend. Abstoßend.
Ich hasse sie.
Wann ist es wohl passiert, dass in meinem Spiegelbild eine zweite Person eingezogen ist? Und warum habe ich es anfangs nicht bemerkt? Weil sie unsichtbar war? Oder weil ich sie nicht sehen wollte?
Warscheinlich ist das der Grund. Auch jetzt will ich sie nicht sehen. Aber sie ist da. Immerzu. Jeden Tag. Und sieht mir aus dem Spiegel entgegen. Nur ich kenne diese Person, denn sie versteckt sich gut. Unter einem dicken Pels. Einer undurchdringbaren Schicht die mein wahres Ich verbirgt.
Diese Person im Spiegel nimmt mich ein. Sie nutzt meine Augen, meine Haare, mein Gesicht und meine Ausstrahlung um die Menschen um mich zu täuschen.
Ich realisiere es erst jetzt. Muss es mir eingestehen. Diese fremde Person im Spiegel ist schon längst nicht nur ein Spiegelbild. Sie hat sich wie eine Decke über mich gelegt. Hat mir eine perfekte Maske aufgesetzt. Das Spiegelbild ist ich und ich bin das Spiegelbild.
Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Was für angsterregende Gedanken. Aber sie sind wahr. Zumindest scheinen sie wahr zu sein. Denn niemand sieht diese Spiegelperson. Keiner hat die Veränderung bemerkt.
Ich starre wieder in den Spiegel. Auf einmal sehe ich mich. Keinen Geist, keine Spiegelperson. Nur mich. Eine unwahrscheinlich große Trauer überkommt mich. Sie zieht sich durch meinen schwachen, vorm Spiegel stehenden Körper. Sie kriecht durch jede Ader, jedes Organ, jeden Winkel meines Körpers. Sie durchdringt die Hülle, die mich stets so gut geschützt hat. Die Maske zerbricht.
Auf einmal laufen Tränen aus meinen Augen, ich vergrabe die Hände in meinen Haaren, ein dunkler Schatten legt sich über mein Gesicht und meine Ausstrahlung verblasst ins nichts.
Plötzlich fühle ich mich einsam. Keiner kann mich hier sehen. Ich habe mich selbst verloren. Diese unbekannte Person im Spiegel bin ich und ich bin die unbekannte Person im Spiegel.
Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Meine eigenen Augen, meine Haare, mein Gesicht und meine Ausstrahlung kommen mir fremd vor.
Ich selber kenne mich nicht mehr und doch bemerkt niemand etwas.
Ich habe mich verändert und doch bin ich für alle gleich geblieben.
Die Zeit läuft ab. Ich muss wieder gehen. Ich blinzel die Tränen aus meinen Augen, zupfe meine Haare zurecht, trockne mein Gesicht und setze mir eine andere, falsche Ausstrahlung auf. Die Maske ist repariert.
Und so werde ich wieder heraus gehen. Unverändert. Aber ein bisschen schlauer.
Doch eines Tages wird mir vielleicht jemand in MEINE Augen sehen und MEIN wahres Ich erkennen. Damit ich meine Maske ablegen, die Hülle abstreifen und die fremde Person im Spiegel wieder gehen kann.
Irgendwann.

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