euphoria

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Als wäre es nicht gerade erst drei kalte Monate her, in denen sich die hellen Stunden verkürzten und die Nächte verlängerten, nicht erst drei Monate, in denen jeder meiner Tage dem Vorherigen in absoluter Vollständigkeit glich und ich immer mehr zunehmend an meiner individuellen Existenz zweifelte, vor denen unser letztes Pflegekind, Samuel, drei einhalb Jahre alt, eine feste Familie gefunden hatte, so befand sich doch heute in aller Pracht der nächste Umschlag des Jugendamtes in unserem Briefkasten und bot sich in einer Ernsthaftigkeit dar, dass es beide meiner Elternteile automatisch zu einem breiten Zähnelächeln zwang - sie liebten alles Ernsthafte und Monotone, seriöse; es war wie ihre eigene kleine Sucht.

Die schwere Sucht nach Anerkennung der hohen Oberhäupter des Staates, die meinem Vater so unendlich wichtig war - und somit meiner Mutter ebenfalls.

Ich hatte es damals noch bewundert, diesen Ehrgeiz, den mein Vater für Ruhm und Geld an den Tag legte, ich fand es vielleicht sogar ein wenig faszinierend, ihm dabei zuzusehen, wie er seine eigene Partei aufbaute, mich in den großen Büros herumführte und mich als neun Jährigen sogar den Bundestag von innen hat sehen lassen, doch mit dem Wachstum seiner Partei, den sich, durch das Rauchen, zunehmend vertiefenden Poren in seinem Gesicht und all den Zeitungen und Fernseh-Promotions, die meine Familie sich erkaufte, wuchs auch mein Wissen, meine Persönlichkeit und diese entpuppte sich als jene, wie meine Eltern es niemals präferierten.

Aus Respekt ihnen gegenüber tat ich meine Meinung nie kund, ward es um Debatten über aktuelle Themen, wie zum Beispiel das Beibehalten klassischer Familienrollen und klare Aufteilung zwischen Mann und Frau im beruflichen Leben, ich hielt mich zurück, doch ich wusste, was sie wollten, war dass ich sie und ihre Werte unterstützte.

Diesen Wunsch konnte ich ihnen trotz all ihrer jahrelangen Bemühungen nie ganz gewähren, schon früher fand ich es verwerflich, so weit wie man es als Kind eben finden kann, dass Homosexuelle in meinem Land als Sündträger herabgewürdigt wurden, man Ungleichheit gegenüber Frauen gekonnt unter den Tisch kehrte und Männer grundsätzlich als der Maßstab aller galten; auch wenn viele dies tendenziell mit großer Sicherheit verneinen würden, mussten wir doch alle am Ende des Tages zugeben, dass ein Mann der eine Firma und somit dein Leben in der Hand hatte, Angst einflößender war, als eine Frau in der Führungsposition - schlicht und einfach, weil es hier gar nicht erst soweit kam.

Und nun hatten beide meiner Eltern ein viertes Mal das monoton weiß schwarz gehaltene Schreiben des Jugendamtes in ihrer Hand und durch die gebleichten Zähne, die selbst die Kaffeetasse, wenn man genau hinsah, spiegelte, die ihr breites Grinsen preis gab, erbarmte sich mir ein kleiner Einblick in meine kommende Zukunft.

Erkaufte Schlagzeilen über „Die Parks engagieren sich ein erneutes Mal sozial und bieten einem Waisen ein wohlhabendes Zuhause" schwebten mir vor und doch, so meinte ich, freute ich mich vielleicht etwas auf den Neuankömmling.

Ich wusste, dass die Pflegekinder der einzige Tropfen Farbe auf der unbeschriebenen Leinwand meiner Eltern und somit auch meiner war und ich genoss jede Andeutung von Veränderung in meinem Leben, die man mir gewahrte.

Ich saß, meinen südengländischen Tee aus Cornwall, zumindest stand es so auf der Verpackung, trinkend gegenüber von meinem Vater, dessen Ansatz mittlerweile in immer regelmäßigeren Abständen nachgefärbt werden musste, und musterte ihn dabei, wie hauptsächlich er derjenige war, der die Unterlagen angestrengt konzentriert durchblätterte und dabei keine Miene verzog, fast als erschien ihm das bloße Umblättern als ermüdend.

Es war so still, so furchtbar still dass es mir mit jedem Umblättern der Seite fast das Trommelfell zerriss;
so furchtbar ton- und geschmacklos, dass selbst die einst in ein angenehmes Petrol getauchte Tischdecke in meinem Blickwinkel schmerzhaft grau erschien und der warme Inhalt der Tasse in meinen Händen unter meiner Anstrengung erzitterte - ich wusste nicht einmal, was genau mich anstrengte, den Überblick darüber hatte ich seit Langem verloren.

„Neunzehn." war das Erste und Einzige Wort, dass die Luft in kurzweiliges Leben tauchte und meiner Mutter einen leicht spöttischen, beurteilenden Ton entlockte.

Doch dieses eine Wort war genau jene Veränderung, die ich an diesem Morgen so sehr benötigte, um mich, wenn auch ungenügend, wieder mit einem aus Fleisch und Blut bestehendem Menschen gleichstellen zu können.

„Neunzehn was?" warf ich leise als offene Frage in den Raum hinein, stellte meine Tasse mit einem leichten klack auf der Untertasse ab und musterte wartend das Gesicht des Oberhauptes dieses Hauses.

Die Sonne hatte mittlerweile einen Punkt erreicht, an dem sie zielgerade durch das Küchenfenster quer durch den Raum schien und eine leicht orangene Linie auf dem Tisch hinterließ, sich etwas an dem Geschirr spiegelte und fast wie gewollt, kurz vor dem Kühlschrank durch Schatten erdrückt wurde.

Mittlerweile war das der Punkt, an dem ich mich dank meiner Gedankenabläufe sogar anhand eines einfachen Morgenbildes dazu befugt fühlte, mich selbst zu bemitleiden.

Furchtbar.

„Neunzehn Jahre soll er alt sein. Neunzehn Jahre und noch immer im Heim, das kann nur Verderben bedeuten. Mit Neunzehn noch nichts auf die Beine gestellt zu haben, furchtbar." Mein Vater massierte sein Nasenbein, als kompensiere er damit die Frustration, welche ihm gerade sehr sicher durch jeden Nerv fuhr, man sah es ihm alleine an der Unruhe seines Fußes an, der nervös mit dem Absatz auf den Boden klapperte.

Fünfundfünfzig und noch kein Ventil für Frustration gefunden.
Fünfundfünfzig und noch immer viel zu leicht aus der Fassung gebracht.

Wie viel besser als jener Neunzehnjährige kannst du sein, ohne ihn zu kennen?

„Schatz, man siehe es positiv. Sie gaben uns diesen Jungen sicher, weil sie uns für fähig genug halten. Sie sind, genauso wie wir ein Teil des Staates und der Behörden, es sei uns ein Kompliment, mit Herausforderungen konfrontiert werden zu dürfen, nicht?"

Scheinbar beruhigten die Worte meiner Mutter den Gemütszustand des Älteren, denn sein Fuß ruhte von einem Moment auf den Anderen wie ein schweigendes Lämmchen auf dem Boden.

Mein Tee war mittlerweile erkaltet und vielleicht nicht zuletzt deswegen, weil mir der Appetit mit dem Gedanken daran vergangen war, dass das einzige, um das meine Eltern sich sorgten, das Versagen war, dass ihn mit Pflegekindern bevorstand, die sie nicht in ihre Formen drücken konnten.

Und als ich die Gunst des Momentes ausnutzte und mir die Unterlagen selbst zur Hand nahm, da wusste ich, wovor es meinen Vater graulte; und hier ward es nicht um das Alter, das so unverschämt kursiv in der zweiten Zeile gleich neben des Bildes des Jungen stand.

Die zwei Kapitel habe ich 2018 geschrieben. Werden die einzigen sein, die jemals hier noch online kamen. Aber fand sie irgendwie zu schön, um sie hier verrotten zu lassen xD

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 24, 2020 ⏰

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