Stop-and-go-Phasen V

146 13 9
                                    

Oder auch: Was er ein für alle Mal verstehen muss


An Heilig Abend, lange bevor das Essen aufgetischt wird, nickt er kurz auf dem Sofa ein und bekommt prompt Besuch von seinen ganz persönlichen Geistern der Weihnacht. Zuvorkommend wie sie sind, erinnern sie ihn daran, wie das so mit ihm und dem Essen an früheren Weihnachtsfesten war und zeigen ihm auch gleich, wie es zukünftig sein könnte. Es liegt alles in seiner Hand. Julien versteht schon...


Als es dann später ernst für ihn wird, sagt keiner der Anwesenden etwas zu seinem Essverhalten. Es gibt Blicke, selbstverständlich gibt es die, doch sonst verschont ihn seine Familie mit Fragen oder Kommentaren und er erspart ihnen dafür die Lügen. Lieber will er ihnen heute beweisen, dass er normal essen kann. Wäre doch gelacht, wenn nicht! Außerdem fröstelt ihn der Gedanke an das, was ihm der Geist der zukünftigen Weihnacht gezeigt hat, zu sehr, um nichts ändern zu wollen. Also isst er. Die Menge ist relativ. Ju ist sich auch nicht sicher, ob es die Menge an sich ist, die ihm hinterher höllische Bauchschmerzen bereitet oder eher der mittlerweile ungewohnt hohe Fettanteil. So oder so wird er von Krämpfen geplagt, die ihn früher als beabsichtigt ins Bett treiben.

Den Schmerz zu ignorieren ist nach einer Weile tatsächlich verhältnismäßig einfach. Das schlechte Gewissen hingegen tut weiterhin so verdammt weh, dass Julien irgendwann aus seinem Deckenkokon kriecht und noch ein zusätzliches Workout einlegt, obwohl er sich für die Weihnachtstage ohnehin schon Sondertrainingseinheiten auf den Plan gesetzt hat. Folglich schwitzt er spätabends mutterseelenallein im Schein von Lichterketten, Christbaumschmuck und Weihnachtsdeko. Im Kopf die trügerische Hoffnung, dass er seine Schuldgefühle mit seinem Schweißgestank so dermaßen anwidert, dass sie freiwillig das Weite suchen.

Tatsächlich wähnt sich Julien am Ziel, als ihm die ersten schwarzen Flecken vor die Augen treten und sein Keuchen die durchs Zimmer schallende Musik in den Schatten stellt. Dass er schon lange nicht mehr kann, ignoriert er. Hauptsache das Gefühl des Versagens rückt von ihm ab. Hauptsache sein Gewissen schimpft ihn nicht mehr aus. Hauptsache er hat alle überschüssigen Kalorien verbrannt, damit er morgen keinen Anschiss von der Waage kassiert.


Keine Minute später geht ihm endgültig die Kraft für weitere Liegestütze aus und plötzlich klebt seine rechte Gesichtshälfte an den mit Schweiß besudelten Bodenfliesen, sein Brustkorb scheint zu platzen und sein Magen drückt etwas hoch, das Ju im Reflex direkt wieder hinunterschluckt. Bleibt der berstige Geschmack von anverdautem Speisebrei in seinem Mund und...das schlechte Gewissen. Shit! Es war alles umsonst!

„Selbst Schuld! Ich hab dir doch gesagt: Friss verdammt noch mal nich' so viel oder kotz es hinterher wieder aus. Aber nein!", dringt vom Sofa her das rechthaberische Aufbrausen des Hungerns, für den Juliens Bemühungen ein todtrauriges Entertainmentprogramm sind. „Du weißt ja immer alles besser! Hast du eigentlich 'ne Ahnung, wie lang es her is', seit ihr zu Abend gegessen habt? Seitdem hat dein Körper schon massenhaft Kalorien eingelagert! Und du versuchst noch, die abzutrainieren?! Wie blöd kann man eigentlich sein?" Tzzzz.

'Ich wollt' doch nur versuchen, normal zu essen!', will Ju sich verteidigen, aber die körperliche Erschöpfung lässt ihn nicht zu Wort kommen und bevor er sich versieht, ist er ein Verurteilter. Seine Gedanken flirren, vielleicht weint er sogar ein klitzekleines bisschen. Nein, ganz sicher tut er das. Aber who cares? Er bestimmt nicht, weil er alleine ist und das verhängte Urteil nicht gerecht findet. Er will nicht mehr hungern, nicht mehr krank sein, nicht mehr jeden Bissen zerdenken und nicht mehr vor jeder Mahlzeit Panik schieben. Er will gesund sein - und zwar SOFORT! Er hat sich doch so angestrengt in den letzten Wochen und zum Dank wird er nur wieder mit dem schlechten Gewissen in eine Zelle gesteckt...

Wenn er nur nicht immer alles auf einmal wollen würde. Er weiß doch, dass es so nicht funktioniert. Schritt für Schritt muss er gehen.
Finger um Finger von der Waffe lösen.
Anders wird er sein Ziel nicht erreichen.

Er sollte ein Video zu dem Thema machen.


_________________
Danke wieder fürs Lesen, ihr Lieben! :-) Und natürlich auch wieder für eure positiven Rückmeldungen zum letzten chapter. Ich hoffe, das neue Kapitel hat euch gefallen? Ich hab's noch letztes Jahr vor Weihnachten geschrieben und den letzten Satz nachträglich hinzugefügt (weil ich das "Nackte Jahresvorsätze"-Video so gefeiert habe ^^).

Wer möchte, kann mir übrigens gern auf Instagram folgen: fyeahjulienbam
Ich mach ab und zu kleine edits mit Photoshop (erwartet bitte nix Großes..) und folge euch natürlich auch gerne ;-)

Geisterfahrer [Julien Bam FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt