Kapitel 22

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(Jensen's POV)

Am nächsten Morgen wachte Jensen vor Jared auf. Es war erst 8 Uhr morgens und Jensen bemühte sich, Jared nicht aufzuwecken. Nach dem emotionalen Stress gestern konnte er die Ruhe sicher gebrauchen. In der Küche traf er auf seinen Vater, der gerade den Frühstückstisch deckte. „Guten Morgen Jensen!", begrüßte dieser ihn. „Morgen", antwortete Jensen und setzte sich. Eine Weile aßen sie stumm. Sein Vater sagte nichts, aber Jensen war klar, dass er wissen wollte, was am Abend zuvor passiert war.

„Jared ist einem Ex-Freund begegnet", sagte er schließlich. „Ist nicht so ganz positiv verlaufen. Mehr weiß ich aber auch nicht wirklich, ich hab noch nicht mit ihm gesprochen." Sein Vater nickte nur. „Donna hat übrigens eben angerufen, sie darf jetzt gehen. Kannst du sie vielleicht gleich vom Krankenhaus abholen?"

„Natürlich! Dann fahr ich direkt nach dem Frühstück los." Jensen freute sich zwar, dass seine Mutter wieder nach Hause gehen durfte, wollte aber eigentlich im Haus sein, wenn Jared aufstand, um mit ihm sprechen zu können. Deshalb schlang er schnell den Rest seines Essens herunter und machte sich direkt auf den Weg.

Das Krankenhaus war angenehmerweise nicht allzu weit entfernt und die Entlassung seiner Mutter ging auch zügig voran, sodass sie um halb 11 Uhr nach einer für Jensen gezwungen lockeren Autofahrt wieder zurück waren. Im Haus angekommen trug er das Gepäck seiner Mutter ins Schlafzimmer. „Hey Dad, war Jared schon unten?", fragte er währenddessen und versuchte, möglichst gelassen zu klingen.

„Nein, hab ihn noch nicht gesehen – aber gehört, also wach ist er."

„Okay... Mom, ich lass dich dann mal ankommen – sorry, ich müsste mal gerade mit Jared sprechen, ist wichtig." Er sah sie entschuldigend an. „Klar, geh du nur", meinte sie lächelnd.

Vor der geschlossenen Tür ihres gemeinsamen Zimmers blieb Jensen stehen, klopfte leise und öffnete die Tür dann vorsichtig. Jared stand mit dem Rücken zu ihm und schüttelte gerade das Bett auf. Jensen setzte zu einem „Guten Morgen" an, stockte aber, als er den gepackten Koffer auf dem Boden sah. „Jared?" Dieser ließ die Bettdecke sinken und drehte sich endlich zu ihm um. Jensen war erschrocken über den harten Blick in den sonst so warmen Augen des doch immer so fröhlichen Mannes. Verunsichert schloss er die Tür hinter sich. Jared setzte sich aufs Bett und nach einer kurzen Pause setzte sich Jensen daneben.

„Also... dieser Charlie gestern-" Bei der Erwähnung des Namens umklammerte Jared seine Arme noch stärker als zuvor. Jensen wusste nicht, ob er weitersprechen sollte, aber irgendwie mussten sie die Situation ja klären. Dieser Typ hatte bei Jared offensichtlich sehr extreme und negative Gefühle ausgelöst und Jensen wollte verstehen, warum, um ihm damit helfen zu können.

„Das war dein Ex-Freund, ja?" Jared gab nur ein Zischen von sich. „Nachdem du weggegangen warst, hat er ziemlichen Mist von sich gegeben... scheint ein richtiges Arschloch zu sein. Aber-"

„Jensen", gab Jared nun das erste Wort, seit Jensen in den Raum getreten war, von sich, „Lass es einfach." Seine Worte waren gepresst und er starrte dabei auf einen festen Punkt vor sich.

Kurz blieb Jensen still, aber wenn Jared nur weiter seine negativen Gefühle in sich hineinfraß, würde ihm das nicht helfen. Und er war schließlich sein bester Freund. „Jared, bitte. Ich habe so ungefähr eine Idee, aber willst du mir nicht sagen, was es mit dem Typen auf sich hat? Ich denke, es würde dir sicherlich helfen, darüber zu sprechen-"

Und dann explodierte Jared. Er sprang vom Bett auf, die Hände wieder zu Fäusten geballt, sah Jensen endlich an und schrie „Verstehst du es denn nicht!? Ich will NICHT darüber REDEN!!" Jensen wich erschrocken weiter zurück aufs Bett, während Jared anfing, vor ihm hin- und herzumarschieren. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, erwiderte Jensen: „Aber du solltest mit jemandem darüber sprechen! Und ich bin schließlich dein Freund, du weißt, mit mir kannst du über alles red-"

„GENAU DAS ist es ja, verdammt noch mal!" Jared blieb stehen, fixierte Jensen, trat auf einen Schritt auf ihn zu, bis er direkt vor ihm stand und tippte ihm zitternd, mühsam beherrscht mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Weißt du, GENAU SO hat es mit Charlie auch angefangen. Erst war alles ganz normal, alles war super, wir sind uns näher gekommen, oh, ich war so glücklich - endlich jemand, der mich verstand! Und ruck-zuck hat er mich überzeugt, bei ihm einzuziehen, dann hab ich meine eigene Wohnung gekündigt. Miete müsste ich ihm keine zahlen, ich solle mich auf mein Studium bezahlen, statt mir einen Nebenjob zu suchen. Und Stück für Stück hat er immer mehr Kontrolle über mein Leben übernommen und mich immer mehr eingeengt – mich davon überzeugt, dass meine Freunde schlecht für mich wären, dass sie hinter meinem Rücken über mich reden würden, aber er wäre ja für mich da. Und plötzlich bestand mein ganzes Leben nur noch aus Charlie. Charlie war überall. Ich hatte keinen Job, keine eigene Wohnung, keine anderen Freunde, meine Familie sah ich auch nie, Charlie hat schon dafür gesorgt, dass wir nie an den gleichen Wochenenden Zeit hatten. Ich bin kaum noch aus dem Haus gegangen, Charlie hat alle Einkäufe erledigt, Kleidung für mich online bestellt. Und unter seinem Schutz-", Jared spuckte das Wort regelrecht aus, angewidert davon, „seiner Sorge, wurde ich langsam zu einem Schatten meiner Selbst, ich hatte nichts mehr, was mich zu einer eigenen Person machte, keine Hobbys, keine Freunde, keine Interessen, keine Familie, keinen Job, absolut NICHTS, was nicht gleichzeitig absolut und vollkommen mit ihm zu tun hatte. Und irgendwann aß ich immer weniger, lag den ganzen Tag nur noch apathisch und antriebslos auf dem Bett, wurde depressiv. Und weißt du, wie das Ganze ausging?? Niemals wäre ich aus eigener Kraft da rausgekommen. Das Ganze hat damit geendet, dass ich versucht habe, mich umzubringen. Mit den Schlaftabletten, die Charlie mir besorgt hatte, damit ich besser schlafen konnte." Jared lachte kurz bitter auf, ohne jegliche Spur von Freude darin. „Überdosis. Und ich hätte es auch fast geschafft, hätte ich nicht in meinem Zustand kurz vor der Bewusstlosigkeit aus Versehen den Glastisch im Flur umgestoßen. Die Nachbarin hat es gehört und die Polizei gerufen, weil sie dachte, es wäre jemand eingebrochen. Sie wusste, dass Charlie nicht zu Hause war und wie sich später herausgestellt hat, wusste niemand in der Nachbarschaft, dass ich überhaupt dort wohnte, Charlie hat mich nie auch nur mit einem Wort erwähnt. Und ich bin mir sicher, er hätte mich auch dort sterben gelassen. Aber die Polizei hat mich gefunden und so bin ich erst mal im Krankenhaus gelandet, und mit ganz viel Therapie, dem Umzug hierher, neuer Anfang und so, und irgendwie hab ich es geschafft."

Jensen hatte die ganze Zeit nur stumm zugehört, während Jared ihm diesen schrecklichen Teil seiner Vergangenheit erzählt hatte. Während er ihn am Anfang noch angeschriehen hatte, wirkte er nun ruhiger, aber auf eine kalte, ablehnende Weise.

„Merkst du es jetzt? Ich habe verdammt lange gebraucht, um es zu kapieren, aber nochmal mach ich den Scheiß nicht mit. Ich war wieder genauso naiv wie damals. Hab nicht gesehen, dass genau dasselbe wieder passiert – insofern hat Charlie tatsächlich eine einzige gute Sache in seinem verdammten Leben hervorgebracht, indem er mich durch den Scheiß gestern zum Nachdenken gebracht hat. Und all die Parallelen zu sehen. Dass ich schon wieder komplett abhängig von einer einzigen Person bin!! Du bist ÜBERALL. Ich wohne bei dir. Ich habe keine andere, eigene Wohnung, wo ich hingehen könnte. Ich verdiene kaum Geld, ich kann dir nichts zurückzahlen, stehe in deiner Schuld – verdammt, ich folge dir überall hin, wie ein verdammter Hund, du bist in JEDEM. Teil. Meines LEBENS!! Es ist GENAU dasselbe wie damals, aber diesmal, diesmal gehe ich, bevor es zu spät ist."

Und damit schnappte sich Jared seinen Koffer und rauschte aus dem Zimmer raus. Jensen war völlig perplex, geschockt von der Entwicklung des Morgens, Jareds Geständnis, seinen Beschuldigungen. Erst als die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel, zuckte Jensen zusammen und kämpfte sich aus seiner Starre heraus. Oh Jared. Oh Jared, was musstest du nur durchmachen. Was habe ich nur getan? Und dann stürzten all die Emotionen auf ihn ein und er fing an, zu weinen. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und begann unkontrolliert zu schluchzen. Einerseits aus Mitleid für all die schrecklichen Sachen, die Jared hatte durchmachen müssen, aus Trauer um den Beinahe-Verlust dieser Welt, aus Wut auf das Arschloch Charlie, der dem gutmütigen Jared so etwas angetan hatte, der ihn bis zum versuchten Selbstmord getrieben hatte, und aus Angst, dass er Jared nun für immer verloren hatte.

Verlobung mit einem Fremden (J2 AU)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt