Kapitel 1

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Teil I


Kapitel 1


Ein Lied beginnt. Ein Weg entsteht.

Die Melodie wird lauter. Die Möglichkeiten klarer.

Bei allen.

Mein Pfad verwischt. Meine wehmütigen Töne enden in schmerzender Stille.

- Haltlos -


Wind fuhr durch meine Haare, und blies auf meine eiskalten Hände. Ich starrte auf die Spitze des Füllfederhalters, aus der unablässig Tinte rann. Meine Gedichte beendete ich stets mit einem Kleks blauer Farbe anstelle eines Punktes, weil es so endgültiger war. Wieder und wieder las ich die Worte, die eben noch in meinem Kopf geschrien und nun aus meinen Fingern geflossen waren. Wenn ich sie nicht aufschreiben würde, wenn ich sie in mir drin behalten würde, würde ich verrückt werden. Ich wünschte, ich könnte von Liebe und Glück schreiben, von Hoffnung und Zuversicht, aber was ich nicht kannte, konnte ich unmöglich fühlen. Und was ich nicht fühlte, konnte ich nicht beschreiben. Aber auch Tod und Verderben und den Untergang der Menschheit verbannte ich von den Seiten. Meine Worte und Gedanken waren keine Nachfahren Baudelaires oder Poes. Ich besaß nicht diese düstere Besessenheit, dieses schwarze Nichts, diese morbide Seele.

Vielmehr war ich zwischendrin. Zwischen Hoffnung und Untergang, zwischen Liebe und Hass, zwischen Gestern und Heute, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nirgendwo ganz. Ich war das Weder, das Irgendwie und das Eventuell.

Es gab Menschen, die eines Tages auf ihrem normalen Weg liefen, sich urplötzlich verhedderten und stolperten. Sie gerieten durch ein Ereignis, wie Trennung oder Tod ins Wanken. In meinen Gedichten nannte ich sie die Mágoa. Sie waren jene, in deren Mimik und Gesten sich Schmerz widerspiegelte. Sie waren verändert, aber sie konnten wieder aufstehen und mit einem leichten, kaum sichtbaren Humpeln weiterlaufen.

Und dann gab es Menschen, die seit ihrer Geburt zwischen den Welten, dem Leben, dem Glück und der Trauer schwebten. Es war dieser kleine Staubkorn Menschheit, bei dem sich dieses Gefühl bereits im Mutterleib in die DNS geschlichen hatte. Wie bei mir. Ich fand mich nirgendwo zurecht, ich war das Gewöhnliche, das Unspektakuläre, der Durchschnitt, das Unbemerkte und Ungesehene.

Mit dieser Veranlagung war ich in eine Familie hineingeboren worden, in der jedes Extrem vertreten war. Ich war hoffnungslos dem Untergang geweiht. Um zu sehen, das ich noch nicht verschwunden war, schrieb ich, um meine Gedanken zu ordnen, schrieb ich, um zu verstehen, wie ich in das Gefüge der Welt und meiner Familie reinpasste, schrieb ich. Dabei lernte ich mich, aber auch meine Familie besser kennen. Ich konnte sie reflektieren und auf dem Blatt Papier mit dem Tintenkleks am Ende von jedem Winkel aus betrachten.

Da war mein Vater mit seiner stillen, schweigsamen Art, der nie beteiligt zu sein schien. Er wandelte lächelnd durchs Leben und ließ nichts zu nah an sich heran. Nichts schlüpfte durch seine Mauern. Nichts Böses, nichts Schlechtes, aber auch nichts Gutes und vor allem keine Liebe.

Und dann gab es meine Mutter. Brüsk, geradlinig und effizient. Sie hatte drei Kinder geboren und bei jeder sich bietenden Gelegenheit erzählte Caroline Rix von ihrer furchtbaren ersten Schwangerschaft mit meiner großen Schwester Sophie, während der sie sich so oft hatte übergeben müssen, dass sie zum Ende hin nur noch liegen konnte. Klar, dass dies sowohl meiner Schwester als auch meiner Mutter das Prädikat „Besonders" verlieh. Sophie hatte glänzendes, honiggoldenes Haar, puderweiße Haut, gletscherblaue Augen und war gertenschlank. Zu ihrem Aussehen gesellte sich ein Intellekt, der so weit außerhalb des Spektrums lag, dass man ihn nicht mehr beziffern konnte. Sie studierte Medizin an einer Privatuni mit vollem Stipendium.

Stardust in Your VeinsWhere stories live. Discover now