Kapitel 6

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Gefühlte fünf Minuten nachdem ich erschöpft eingeschlafen war, befand ich mich schon wieder auf dem Weg in den Vorlesungssaal. Mir blieben noch drei Minuten für einen Weg, der fünf dauerte, was bedeutete, dass ich noch einen Abstecher in die Cafeteria machen konnte.

Wenige Minuten später, meinen Kaffeebecher in der Hand haltend, machte ich mich endgültig auf den Weg zur Vorlesung. Ausgerechnet heute würde ich verdammt lange an der Uni sein, aber ich hatte es mir so ausgesucht. Vorsichtig drückte ich die Türklinke runter und schlüpfte durch den schmalen Spalt hinein. Der Saal war noch recht leer, acht Uhr passte den wenigsten BWLern, obwohl sie sich daran gewönnen sollten, würden sie doch später tagtäglich um diese Uhrzeit anfangen. Wir hatten in einer der Vorlesungen einmal einen Gastredner, der bei einer renommierten Unternehmensberatung arbeitete. Eine Arbeitszeit von rund achtzig Stunden seien normal in seinem Business. Mir wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen – wer bitte hatte wirklich Lust auf so etwas?

Vorsichtig stellte ich den Kaffee auf den Fußboden, denn der Klapptisch war so gebaut, dass er in Richtung meines Bauches abschüssig wurde. Was ein genialer Schachzug der Designer war, sowohl Stifte als auch Block rutschten permanent nach unten. Ich schlüpfte aus der Jacke und drehte mich, um sie aus meinem Rücken herauszuziehen.

Dabei sah ich, wie Marc den Raum betrat.

Nicht so ruhig und lässig wie sonst. Sein linkes Bein wirkte minimal steifer, wodurch sein Gang die Idee eines Humpelns bekam. Meine Kinnlade fiel nach unten. Ich erstickte an meiner eigenen Atemluft und mein Herz pochte so laut in meiner Brust, dass ich mir einbildete, selbst der Dozent würde es hören.

Das Humpeln war nicht ganz so schlimm wie gestern und vermutlich registrierte es außer mir niemand, aber es war da. Unfähig, meinen Körper aus der Schockstarre zu lösen, ließ ich meinen Blick wandern. Marc wurde von mehreren jungen Frauen angestarrt. Sie konnten nicht wissen, dass er ein stalkender Psycho war. Mein Blick huschte zu ihm zurück und trotz des zu einem schläfrigen Orange gedimmten Lichts und den zugezogenen dicken, schwarzen Vorhängen, erkannte ich die verblassten Hämatome in seinem Gesicht. Ich hatte ihn einen Tag lang nicht gesehen und konnte mir nicht erklären, wie es möglich war, dass er eine Verletzung erlangt hatte, die fast wieder verheilt war.

Ich schluckte schwer, meine Kehle fühlte sich an, als befände sich dort die Hälfte des Wüstensandes der Sahara. So gerne ich auch aufstehen und dieser Begegnung aus dem Weg gehen würde, ich konnte nicht. Im Moment war ich genau hier im Vorlesungssaal unter all meinen Kommilitonen am sichersten. Ich. Die ich die Anwesenheit von anderen Menschen mied, suchte sie nun. Ich hatte wirklich Angst.

Marc lächelte mich an und ging die eine Stufe runter zu der letzten Reihe, in der ich saß.

„Was machst du hier?", zischte ich über den unbesetzten Platz zwischen uns, auf den ich schützend meine Tasche gestellt hatte. Ja, ich hatte Angst, aber das würde ich ihm sicherlich nicht zeigen, denn dadurch würde ich ihm die mächtigste Waffe in die Hand geben, die Menschen besitzen konnten. Jemanden durch bloße Anwesenheit einschüchtern. Wenn man das konnte, wenn man diese Macht über andere besaß, war alles möglich.

Marc zog eine Augenbraue in die Höhe und ich studierte die Flecken in seinem Gesicht. Weder Lila, noch Blau konnte ich in den Farbschattierungen erkennen, lediglich einen blassen grüngelben Schimmer, für den der Heilungsprozess bereits seit einigen Tagen vonstattengegangen sein müsste.

„Nette Begrüßung. Womit habe ich das verdient?", fragte er, und in seiner Stimme schwang ein Unterton, den ich nicht so recht deuten konnte. Gereizt? Aggressiv?

„Tu nicht so als würdest du nicht wissen, was ich meine. Du verfolgst mich! Sei es ..."

„Ja, sorry, wir studieren das gleiche Fach mit dem gleichen Schwerpunkt", unterbrach er mich, und hob seine Hände in einer abwehrenden Geste als sei ich die Verrückte.

Stardust in Your VeinsWhere stories live. Discover now