W E L L E N S P I E L

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Während die Inselbewohner die ersten Sicherheitsvorkehrungen vor dem angekündigten Sturm trafen, saß ich auf einem Schemel und starrte stumm den Sessel vor mir an. Es war ein alter, mit Leder überzogener Sessel, der bereits seit geraumer Zeit in der Ecke des Zimmers stand und nur ein paar Euro auf dem Antiquitätenmarkt gekostet hatte. Ich beugte mich vor und strich mit meiner Hand über sein Polster. Es war noch ganz warm. Deutlich spürte ich die Sitzfalten und zeichnete gedankenverloren ihre Konturen nach. Der Wind rüttelte an den maroden Fensterläden des Bungalows. Bald würde er die zermürbten Dachschindeln herunterreißen und das Innere den Elementen aussetzen. Doch das war nicht schlimm. Es war nicht viel, was wir besaßen, doch wir hatten uns und das genügte, so dachten wir, um glücklich zu sein. Und das waren wir zunächst auch, so glücklich, wie ein frisch verliebtes Paar es nur sein kann.  
Wir trafen uns erstmals an einem heißen Sommertag Mitte Juli 2018. Die Sonne brannte der regen Menschenmenge, die sich an jenem Nachmittag auf dem Berliner Antiquitätenmarkt traf, erbarmungslos ins Gesicht. Es roch nach frisch gemähtem Gras. Ich, als angesehener Psychologe, befand mich unter ihr und war nicht gekommen, um mich des Anblickes wertvoller Antiquitäten zu ergötzen, nein, ich genoss die Gesellschaft, genoss es, das undefinierbare Stimmengewirr auf mich einwirken zu lassen und in tausende fremde Gesichter zu schauen. Mich faszinierten die unterschiedlichen Menschen, ihre Gangarten und individuellen Verhaltensweisen. Jeder von ihnen verbarg ein Geheimnis, das womöglich nie gelüftet werden würde. Diese Geheimnisse waren der Grund für meine Berufswahl und ich war zufrieden damit. Ich war jung und zufrieden mit meiner aktuellen Lebenssituation – mit meiner gut situierten Wohnung in Charlottenburg-Wilmersdorf, mit Blick auf den Horizont, mit meinem Beruf und meinem Freundeskreis, der zwar nicht sehr umfangreich, jedoch innig und intim war, so dachte ich zumindest.

Ich ließ hin und wieder von den Menschen ab und wandte mich den Waren zu. Neben Gemälden, die deren großer Künstler verblüffend ähnlich sahen, wurden Garnituren und sogar Statuen in Körpergröße angeboten. Ich begutachtete manche Relikte genauer und wandte den Blick anschließend wieder ab. So flanierte ich sorglos entlang den Ständen, sah mir die Antiquitäten an und ließ meinen Blick an ihnen vorbeiziehen, bis dieser an dem alten braunen Ledersessel hängen blieb. Er war schlicht, so wie jeder andere auch und doch konnte ich meinen Blick nicht von ihm abwenden. Wie durch eine spirituelle Kraft getrieben ging ich auf ihn zu, wollte gerade mein Portemonnaie aus meiner Gesäßtasche fischen, um den geforderten Preis zu bezahlen, als ich aufblickte und dem jungen Verkäufer in die Augen sah. Mein Atem stockte und meine Knie fingen an unter dem Anblick zu zittern. Ich war wie elektrisiert, ein Zustand den ich weiß Gott noch nie so stark und auf diese Art und Weise wahrgenommen hatte. Der junge Mann, er konnte nicht älter als 20 Jahre sein, hatte mittellanges, hellblondes, ja fast weißes Haar, einen braunen Teint und trug ein kurzes T-Shirt mit der Aufschrift „I love Red Sox". Doch das war es nicht, was mir bei seinem Anblick dem Atem stahl nein, es waren seine einzigartigen grünen Augen, die sich wie ein Tor zur Seele für mich zu öffnen schienen. Die Augen, die mich anstarrten und geradezu eine intime Beziehung zwischen uns beiden aufbauten. Einen imaginären Faden, der uns beide verband.

Ich fand meine Stimme als erster wieder und fragte, wie teuer der Sessel sei. Und auch wenn ich mich heute nicht mehr an den Preis erinnern konnte, zu abgelenkt war ich gewesen, hielt ich dem jungen Mann einen Hunderter hin, der ihn entgegennahm und mir Wechselgeld in die Hand drückte. Die Berührung war weich, gar zärtlich und hätte ich es nicht besser gewusst, so hätte ich sie sogar als intim bezeichnet. Doch ich kannte nicht einmal seinen Namen und wusste nicht, was ich tun sollte. Sollte ich gehen und die Begegnung vergessen oder bleiben? Ich blickte den jungen Mann erneut an, wieder unfähig etwas zu sagen, als dieser mir zu meiner Überraschung einen kleinen, gefalteten Zettel entgegenhielt. Ich nahm ihn an mich und rannte wie ein kleines Kind davon, blickte nicht zurück und ließ den Sessel dort stehen, wo er stand, er interessierte mich nicht mehr. Mit der S-Bahn war ich binnen 20 Minuten zu Hause. Erleichtert ließ ich mich auf mein Bett fallen, nahm den Zettel hervor und erblickte seine zwölfstellige Telefonnummer. Ich traute mich zunächst nicht ihn anzurufen, was überhaupt nicht meiner Art entsprach, überwand mich jedoch letzten Endes. Die Sehnsucht nach einer weiteren Berührung mit ihm trieb mich dazu. Ich konnte ihr unmöglich länger widerstehen. Seine zarte und sogleich sonore Stimme fiel mir erst am Telefon auf. Wir verabredeten uns im Park, es war ein schöner, warmer Sonntag. Ich erfuhr vieles über ihn, so wie er vieles über mich erfuhr. Flynn hieß er, ursprünglich amerikanischer Herkunft. Seine Vorliebe galt dem Baseball und Antiquitäten, er liebte ihren alten, leicht modrigen Geruch. Wir verabredeten und einige Male und kurze Zeit später küssten wir uns unter einer alten Linde am Karpfenteich. Es war ein inniger Kuss und der Beginn einer absolut intimen Beziehung. Mit ihm an meiner Seite fühlte ich mich als der glücklichste Mensch der Welt, die nichts und niemand zerstören würde können. Sie gab mir Kraft und entfachte in mir eine nie zuvor gespürte Lust zu leben, eine Kraft, die mir nichts und niemand wieder nehmen würde können. Dass dies ein fataler Irrtum war erfuhr ich bereits ein paar Tage darauf.

Es war Montag, eine Woche nach unserem ersten Kuss. Ich wartete wie jeden Werktag in meinem Büro und erwartete meine erste Patientin Frau Mutt, eine aufrichtige junge Dame mit Depressionen, als meine treue Sekretärin Sibylle Mannsen mit dem Telefon hereinkam. Sie reichte es mir stumm. Ich blickte sie an und nahm erwartungsvoll das Telefon in die Hand. Es war Frau Mutt, die mir erklärte, sie wolle nicht mehr zu mir kommen und habe bereits einen anderen Psychiater gefunden. Als ich sie nach dem Grund fragte, legte sie wortlos auf. Kopfschüttelnd gab ich Sibylle das Telefon. Bevor sie ging, sagte sie mir, ich solle auf unsere Facebook-Seite gucken. Ihr gesenkter Blick beunruhigte mich zutiefst und als ich Facebook öffnete sackte ich in mich zusammen, so erschrocken war ich von Flynns Anblick. Und von meinem in seinen Armen. Ich blickte Sibylle an, die nur betroffen mit den Schultern zuckte und mir einen Brief auf den Tisch legte. Er enthielt ein Ermittlungsverfahren gegen mich, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Jemand hatte mich angezeigt. Dass dieser jemand nicht durchkommen würde, war mir bewusst, doch die schlechte Publicity ebenfalls. Ich seufzte und ließ mich noch tiefer in den Sessel fallen, noch unfähig die Ereignisse zu verarbeiten. Auf den Straßen fielen Flynn und mir immer öfter die skeptischen Blicke und Beschimpfungen der Passanten auf, sodass wir letztendlich in der Öffentlichkeit auf Körperkontakt verzichten mussten. Ich musste meine Arbeit aufgrund von Kundenmangel aufgeben und als wir nur noch uns hatten, beschlossen wir umzuziehen. Wir fanden einen kleinen Bungalow auf Helgoland, den wir für wenig Geld mieteten und wurden zunächst von der neuen Gesellschaft akzeptiert, bis sich auch dort unsere sexuelle Orientierung herumsprach und uns selbst der Verkäufer des Gemischtwarenladens in der Nähe nichts mehr verkaufen wollte, es sei zu rufschädigend. Eines Tages sprach uns eine ältere Dame darauf an, sagte uns, dass so etwas doch sündhaft sei und Gott uns bestrafen würde. Ich schüttelte den Kopf und zog Flynn hinter mir her, dem die Beschimpfungen anderer mehr zu schaffen machten als mir. Er war hochreligiös und der Ansicht, dass wir unsere Beziehung nur im Himmel sorgenfrei ausleben können. Ich wusste noch nicht, was passieren würde, was er vorhatte.

Ich war gerade von meinem Strandspaziergang zurückgekommen, der Wind, der bereits einen Sturm erahnen ließ, hatte mir die salzige Gischt ins Gesicht getrieben, doch ich hatte das natürliche, raue Ambiente und als Einziger am Stand die Elemente auf mich wirken zu lassen genossen, als ich ihn leblos an der Decke hängen sah. Er hatte sich einen Strick um den Hals gebunden und sich erhängt. Auf dem Boden lag ein Zettel mit dem Appell an mich ihm zu folgen. Ich sollte bestürzt, verletzt, gar verzweifelt sein, doch ich verspürte nur eine innere Ruhe, als ich ihn herabnahm und sanft auf den Boden legte. Ich setzte mich, wand den Blick vom Sessel ab, der uns nach Helgoland gefolgt war und starrte ihm in die grünen Augen, die mich damals so angezogen hatten. Ein letztes Mal beugte ich mir vor und küsste ihn auf die Lippen, sie waren noch ganz warm. Dann stieg ich auf den Sessel und legte den Strick um meinen Hals. „Ich komme", waren die letzten Worte, die ich vor meinem Sprung in den Mund nahm. Noch immer klapperten die Fensterläden geräuschvoll, lange würden sie dem Wind nicht mehr widerstehen können.

Jasper Lange starb, noch ehe der Sturm die Insel erreichte.

W E L L E N S P I E L - Eine Kritik an die GesellschaftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt