Pieces of a fallen God

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Noch immer konnte er es nicht fassen, selbst dann nicht, als er den Brief in den Händen hielt. Seine Finger zitterten, als er den Umschlag öffnete. Für einen Moment strich er über das Wachs mit dem Wappen, eine Schreibfeder über einem offenen Buch. Der Brief duftete nach Rosen. Traurigkeit umfasste ihn. Es war das letzte mal, dass er so einen Brief lesen würde. Mit einem tieftraurigen Gefühl im Herzen las er die säuberlich geschriebenen Worte.

"Mein lieber Junge,
von all meinen Lehrlingen warst du der wissbegierigste, von allen Studenten warst du der fleißigste, von allen Texten waren deine die tadellosesten. Du warst einer der letzten, der mich noch an meine glorreichen Zeiten erinnerte und mich als das wahrnahm, was ich einst war. Deshalb richte ich diese Worte an dich.
Als ich noch eine Studentin war, sah unsere Welt noch anders aus. Die Literaturgilde hatte einen viel höheren Stand, du hättest es sehen sollen. Sprachen, das geschriebene Wort, alte Schriften, Gedichte und Lyrik, wir waren so mit der Vergangenheit verknüpft, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn Trajan Ghezer mit seiner Brey durch die Flure spaziert wäre. Ich denke, diese Zeit hätte dir sehr gefallen. Tausende von Schülern bewarben sich für einen Platz an den Universitäten der Literatur. Ich, als ein Dorfkind, konnte mich glücklich schätzen, einen Platz zu bekommen. Schon in den ersten Stunden verliebte ich mich in die Schriften von Nephelia Voltaire, Arden und Richard van Halen. Mit jedem Buch, das ich las, tauchte ich in eine neue Welt ein, lerne fremde Gefühle kennen, bereiste die Welt. Während meine Brüder zur Militärsgilde gingen und Soldaten wurden, fand ich meinen Platz in der Universität, wo ich auch unterrichtete, sobald ich mein Studium abgeschlossen hatte. Ich wünschte, du hättest die Universität zu meiner Zeit erlebt: die Hörsäle waren bis auf den letzten Platz besetzt, alle lauschten andächtig den Geschichten aus vergangener Zeit, es wurden regelmäßig Vorlese- und Schreibwettbewerbe veranstaltet. Diese Zeit war glorreich, doch sie verging, wie ich.
Damals war ich eine Göttin. Ich erschuf meine eigenen Welten, kreierte eigene Persönlichkeiten und schickte diese, wie Papierschiffe auf eine Reise, die nur ich bestimmte. Die Leute rissen mir meine Werke, wie 'Das Tagebuch der Prinzen' oder 'Gilde der Sterne' aus den Händen, ich wurde gefeiert wie ein Kriegsheld, von überall kamen die Leute her, um meinen Geschichten zu lauschen. Noch bevor ich mein 40. Intervall erreichte, war ich auf dem Hochpunkt meiner Karriere. Ich wurde zur Legende, zum Teil der Literaturgeschichte. Ja, damals war ich eine Göttin, unaufhaltsam und stark. Heute sehe ich ein, wie sehr ich den Boden unter den Füßen verloren hatte, wie ich in den Lobeshymnen der Menge badete, wie abhängig ich davon wurde.  Mit einem traurigen Lächeln erinnere ich mich an diese Zeit. Natürlich ist mir klar, was ich alles hätte erreichen können, wenn ich nicht aufgehört hätte. Das war der bestimmt größte Fehler meines Lebens. Ich heiratete, setzte mich für ein paar Jahre zur Ruhe, schrieb aber trotzdem an einem Buch. Dieses Buch sollte alles je da gewesene übertreffen und meinem Erfolg die Krone aufsetzen. Ich hatte eine Idee, etwas völlig neues zu kreieren, und für acht Jahre steckte ich jeden Tropfen Herzblut hinein, den ich hatte. Was für eine Verschwendung! Als ich das Buch meinen Freunden aus der Literaturgilde gab, verspotteten und verhöhnten sie mich. Was ich da für Schund erschaffen hätte, fragten sie mich. Doch dann war es zu spät. Ich erkannte, dass ich mich verrannt hatte in eine hoffnungslose Idee. Mein Plan, der mir einst so brillant erschien, erinnerte mich jetzt an die  Idee eines Kindes und nicht an das Lebenswerk einer Autorin wie mir. Also stopfte ich die Seiten in eine Kiste und vergrub sie. Den Schlüssel versteckte ich.
Danach ging es steil begab für mich.
Niemand wollte meine Bücher mehr lesen, und parallel verlor die Literaturgilde an Wichtigkeit und Ansehen in der Gesellschaft, die Studenten blieben mir aus. Wie schnell die Leute sich doch von etwas abwandten, hat mich fasziniert und abgestoßen zugleich. Was in einem Moment noch so heiß begehrt ist, wird im nächsten Moment keine Beachtung mehr geschenkt. In dieser Zeit verlor ich mich in dunklen Gedanken. Ich sah meinen vergangenen Ruhm nicht mehr als Geschenk an, sondern als Unwichtigkeit. Alles erschien mir plötzlich unwichtig. Was ich sagte, schrieb, las, tat. Denn alles würde zu Staub zerfallen und wenn du das hier liest, werde wohl auch ich zu Staub zerfallen. Mir wurde klar, wie unwichtig unser Dasein doch ist, Milliarden Menschen mit dem einzig wichtigen Ziel, die eigenen Gene weiterzugeben und zu vermischen. Tagtäglich sah ich die Mädchen aus der Künstlergilde, wie sie sich über solch nichtige Kleinigkeiten aufregten, wie ihre Haare oder dem männlichen Geschlecht. Zu gerne hätte ich ihnen gesagt, wie unnütz ihre Streitereien doch waren, aber wer würde schon auf eine alte, kranke Literaturprofessorin hören? Zu wissen, ein Teil der Unwichtigkeit zu sein, machte mich sehr betrübt und nahm mir meine Liebe zum geschriebenen Wort. Mein Leben verlor an Farbe, ich wurde schwer krank. Doch das einzige an das ich denken konnte, war, das dass ein natürlicher Kreislauf des Lebens war.
Kein sehr tröstlicher Gedanke. Obwohl es mir körperlich immer schlechter ging und selbst meine alten Freunde aus der Wissenschaftsgilde mir nicht helfen konnten, unterrichtete ich weiter. Ich denke, es war mein Weg, mich selbst zu bestrafen. Zu sehen, wie unsere Gilde langsam zu Staub zerfiel, dahinrottete, wie ich. Es schmerzte mir im Herzen, wie wenig Schüler noch zu den Kursen kamen, denn die meisten gingen vermutlich lieber zur Politikgilde und regierten die Welt, oder zur angesagten Künstlergilde. Ich habe sogar einmal jemanden sagen hören, dass man nur in der Wissenschaftsgilde etwas richtiges lernte. 
Mein lieber Junge, auch wenn ich vermutlich gerade deine Freude an der Literatur zerstört habe, möchte ich dir auf den Weg geben, dass du niemals aufhören sollst, an deine Träume zu glauben. Du bist ein blitzgescheiter junger Mann und es war eine Ehre für mich, dich in meinem Unterricht zu haben. Und auch wenn die Literaturgilde verschwindet, kannst du stolz auf dich sein. Denn du hast dich getraut, für das einzustehen, was du liebst, egal was die anderen sagten. Und das macht dich stärker, als jeder Held, von dem du je gelesen hast.
Lebe wohl,
deine Mentorin."

Eine Träne tropfte auf das Papier, als er die Zeilen ein zweites Mal überflog. Er vermisste seine Mentorin schon jetzt schmerzlich. Aber wie sie am Ende ihres Lebens die Dinge gesehen hatte, verletzte ihn noch viel mehr. Denn in einem Punkt hatte sie Recht: alles, was wir taten, war sinnlos und wir würden alle zu Staub zerfallen. Doch die Zeit bis dahin gehört uns alleine, das hatte sie nicht bedacht. Wir können entscheiden, was wir tun, so viele Möglichkeiten stehen uns offen, wir können ein erfülltes Leben führen und dieses Geschenk, dieses kostbare und einmalige Geschenk zu leben, in vollen Zügen genießen. Er wünschte, er hätte ihr das sagen können. Er wünschte, er hätte ihr so vieles noch gesagt, doch jetzt war es zu spät. Dann schrieb er seine Gefühle auf, nahm den Brief und zeigte ihn seinen Freunden.

Doch eine Sache ging ihm nicht aus dem Kopf: wo war die Kiste, die seine Mentorin einst vergruben hatte?

Pieces || OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt