(Mit einem dieser Texte will ich bei einem Wettbewerb mitmachen. Welchen findet ihr besser? Was habt ihr für Verbesserungsvorschläge?)
Nieselregen prasselte auf mein Gesicht, und ich zog die Kapuze tiefer, ehe ich den Ärmel meiner Regenjacke zurückschob, um auf die Uhr sehen zu können. Acht Minuten. Ich hatte für diesen Waldweg, der mir als Kind immer ewig lang vorkam, keine acht Minuten gebraucht. Ich sah zurück, die Hände in den Taschen vergraben. Wenn ich den ganzen Weg hin- und wieder zurückgehen würde, wären das sechzehn Minuten. Ich hätte vierundzwanzig Minuten das vor mir hergeschoben, was mir schon seit Wochen auf der Seele lastete, und stünde wieder genau dort, wo ich jetzt stand. Und selbst dann hätte ich noch genug Zeit. Ich seufzte und pickte mir ein Blatt aus dem Schal, den meine Mutter gestrickt hatte. Sowohl die Wolle, als auch das Blatt erstrahlten im gleichen orangerot.
Unter meinen Schuhen raschelte das Laub, und rotz der Wollsocken hatte ich kalte Füße. Ich wagte es gar nicht erst, hinab auf meine Schuhe zu blicken, die bestimmt voller Matsch waren. Kurz dachte ich daran, zurück nach Hause zu fahren, um mir neue Schuhe anzuziehen. In einer Stunde wäre ich dann wieder hier, ohne vorangekommen zu sein, aber mit neuen Schuhen. 'Und ich wäre noch nicht einmal zu spät', dachte ich, ehe ich meine Umhängetasche fester an mich drückte, nicht ohne die Farbe unter meinen Nägeln zu bemerken.
Kälte empfing meine Hände, als ich sie aus meinen Jackentaschen zog und das Geländer einer Holzbrücke umfasste. Unter mir paddelten Enten im Wasser. Ihnen schien weder der Regen, noch die Kälte etwas aus zu machen. Etwas beneidete ich sie ja schon. Eine Ente trat aus dem Bach, schüttelte sich das Gefieder trocken und verputzte ein Stück Brot, welches ein Kind ihr hinwarf. Das Geplätscher des Baches vermischte sich mit den Kinderstimmen. "Guck mal, ich habe eine Kastanie gefunden!" Ich schmunzelte. Wie oft hatte ich früher auf jener Bank gesessen und Enten gefüttert. Eine warme Welle durchflutete mich. Wie lange ich nicht mehr hier gewesen war. Es mussten über drei Jahre sein. Da hatte ich gerade meinen vierzehnten Geburtstag gefeiert, meine Eltern waren noch zusammen und zeichnen war nur ein Hobby. Um diese Jahreszeit hatten wir oft hier gesessen, Kastanien gesammelt, waren durch das Wäldchen spaziert und ich hatte die Enten gezeichnet. Mein Lächeln verblasste. Nur wenige Monate danach hatten meine Eltern sich scheiden lassen und sich in die Arbeit gestürzt. Ich zog mit meiner Mutter in eine Neubauwohnung mitten in die Stadt. Von da an kam ich kaum noch hierher - zu viele Erinnerungen - doch jetzt war diese Brücke genau die Ablenkung, die ich brauchte. Ich sah es noch genau vor mir, wie ich meiner Mutter eine Zeichnung der Enten zeigte, fühlte noch den Stolz, als sie lächelte. "Du hast wirklich Talent, Schatz! Das musst du weiter verfolgen!" Und das hatte ich getan.
Gegenüber unserer Neubauwohnung lag eine Schule, in der eine alte Frau hin und wieder Kunstunterricht gab. Begeistert hatte ich mich angemeldet und die Kurse besucht. Ich hatte es genossen, mit gleichaltrigen zeichnen zu dürfen und mich ganz auf mein Hobby zu konzentrieren. Diese Kurse waren mein Rückzugsort, meine Kunst eine Fluchtmöglichkeit. Ich vergrub die Hände in den Taschen, als ich die Brücke schweren Herzens hinter mir ließ. Wann hatte das aufgehört? Wann war dieses Hobby zu einer Last geworden? Wann hatte ich mich das letzte Mal hingesetzt und etwas gezeichnet, ohne mir darüber Gedanken zu machen, ob es gut werden würde? Wann hatte ich aufgehört, das Zeichnen zu genießen? Ich seufzte, als der Wald sich lichtete, und blieb unwillkürlich stehen. Zweifellos war ich eine begabte Künstlerin, aber ich war nicht die einzige mit diesem Talent. In den Kursen gab es immer ein Kind, das sich besser mit Farben auskannte, mehr über die menschliche Anatomie wusste, oder eine Wasserspiegelung perfekter hinbekam. Jeder mochte es, der beste zu sein, doch dieses Verlangen hatte mich aufgefressen. Bald schon studierte ich die Wirkung von Farben, die Reflektion von Licht oder die Kompositionen. Meine Schule vernachlässigte ich bald komplett, einzig mein Ehrgeiz trieb mich an. Ich wollte die beste sein, und selbst wenn ich mein Ziel erreichte, war ich nicht gut genug. Und jetzt stand ich hier, am Rande eines Wäldchens, auf dem Weg zur Kunsthochschule, meine Kunstmappe in der Umhängetasche. Heute war der Tag des Vorsprechens, heute würde sich entscheiden, ob ich an der Kunsthochschule angenommen werden würde. Ich biss mir auf die Lippen, sah zurück. Der ganze Weg, hin und zurück, inklusive einer Pause an der Brücke wären weitere sechzehn Minuten, in denen ich das Vorsprechen vor mir herschieben konnte.
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Pieces || Oneshots
PoetryIch hoffe, dass ich mit diesem Projekt meine Liebe zum geschriebenem Wort wiederfinde. Einfach nur ein paar Kurzgeschichten, die nichts miteinander zu tun haben. Ich hoffe, die gefallen euch. Lol