Kapitel 3

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Das Schnurren des Wohnmobils war das einzige, was mich jetzt noch wachhielt. Es war halb eins in der Früh und ich saß bereits seit vier Stunden ohne Unterbrechung, von der fünf minütigen Pinkelpause einmal abgesehen, im Auto.
Der Weg von unserem kleinen Dorf in Brandenburg nach Dortmund war im Grunde gar nicht so lang, doch Staus und halsbrecherische Langsam-Fahrer hatten das alte Wohnmobil, dem es ohnehin schon nur gestattet war 100 Kilometer pro Stunde zu fahren, ausgebremst und die eigentlich nur fünf stündige Autofahrt in einen Acht-Stunden Marathon verwandelt.
Doch nach langer Quälerei auf der Autobahn und einem beinahe Auffahrunfall, konnte man endlich die Lichter der Stadt in der Nacht glitzern sehen. Ich war da. Endlich.
In diesem Augenblick meldete sich mein Magen wieder zu Wort. Etwas mehr als acht Stunden fuhr ich schon quer durch Deutschland und etwa genau so lange hatte ich auch schon nichts mehr gegessen. Die Hast und die Eile hatten mich gezwungen, jegliche andere Mahlzeit nach dem Frühstück ausfallen zu lassen. Obwohl ich vermutlich auch keinen weiteren Bissen hinuntergebracht hätte. Der Gedanke an Eli, alleine, hier, in einer fremden Stadt, mit nichts außer seinem läppischen Taschengeld und einem Turnbeutel voller Ersatzwäsche, ließ regelrecht meinen Appetit schrumpfen. Zusätzlich war es die Wut auf meine Mutter, mir nichts davon zu sagen und ihn einfach gehen zu lassen, die mir den Magen umdrehte.
Immer wieder brannten die selben Gedanken in meinem Kopf. Welche Mutter schickte ihren eigenen Sohn von Zuhause fort? Nie im Leben hätte ich meine Mutter als „Rabenmutter" bezeichnet, doch seit dem gestrigen Abend war sie verdammt nah dran. Sie war kein schlechter Mensch, der war sie wirklich nicht. Es war Alexander, dieser konservative Snob, ihr neuer Lebensgefährte, den sie seit vier Jahren, seit der Trennung von meinem Vater, bei ihnen wohnen ließ. Er war für den ganzen Mist verantwortlich, in dem wir steckten. Nur wegen ihm musste ich die Semesterferien damit verbringen, nach Dortmund zu fahren und Eli zu suchen. Ohne ihn wäre das alles gar nicht erst passiert, Eli wäre noch Zuhause und statt gestern Abend in Tränen auszubrechen, hätte ich gemütlich mit ihm und meiner Mutter am Tisch gesessen und gegessen.
Nach zwei Monaten Studium und Prüfungsphase, in denen ich weder meine Mutter noch Eli, meinen Vater oder Alexander gesehen hatte, hatte gestern der kleine Urlaub in Brandenburg angestanden.
Doch anstelle meine Familie in gewohnter Konstellation vorzufinden, hatte mich nur meine Mutter begrüßt. Es hatte nicht lange gedauert, bis ich bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte und sie mit der Sprache herausgerückt hatte: Eli war verschwunden, schon seit fast eineinhalb Monaten. Zuerst war ich geschockt darüber gewesen, dass sie ihn einfach so, ohne Weiteres, hatte gehen lassen. Dann wurde ich wütend auf Alex und schließlich war ich einfach nur noch wütend auf sie. Und das nicht nur, weil sie es zugelassen hatte. Eli war schon oft von Zuhause abgehauen und am nächsten Tag wieder aufgetaucht. Meistens hatte er bei einem Freund übernachtet, doch dieses Mal war er nicht wiedergekommen. Als er den darauf folgenden Tag nicht kam und auch am dritten nicht Zuhause war, hätte meiner Mutter klar sein sollen, dass etwas nicht stimmte. Schon am ersten Tag hätte sie der Polizei Bescheid sagen sollen, das stand in der Verantwortung einer Mutter. Doch mich verletzte es, dass sie es mir nicht gebeichtet hatte, selbst, als er schon seit über einem Monat verschwunden war.
Hätte ich sie am Vorabend nicht besucht, hätte ich immer noch nichts davon gewusst. Sie hätte es mir nicht gesagt und das machte die ganze Sache noch kranker und verrückter, als sie schon war.
Sie wusste nicht einmal, wo genau er überhaupt steckte. Außer einem mickrigen Brief von einer Notfallstation aus Düsseldorf, hatte sie keine Hinweise auf seinen Verbleib.
Der Gedanke daran, dass mein kleiner Bruder in einer Notfallstation übernachten musste, raubte mir das letzte bisschen Appetit.
Eine gute Mutter wäre sofort aufgesprungen und hätte nach ihm gesucht. Doch an ihrer Stelle saß ich nun ihm alten Wohnmobil auf dem Weg zu Eli.
Er war noch nie so lange allein von Zuhause weg. Eli hatte gar keine Ahnung, wie er sich zurechtfinden sollte. Natürlich war er nicht dumm und hatte eine gewisse Kenntnis über das Leben, doch mit ein paar Groschen und einem Schlafsack bewaffnet würde er vermutlich nicht allzu weit kommen.
Ich hoffte nur inständig, dass keine unschöne Überraschung auf mich wartete.

Es war noch einmal eine knappe Stunde vergangen, bis ich endlich bei dem Campingplatz angekommen war, den ich im Internet gefunden hatte. Der Verkehr in der Innenstadt hatte sich zu meinem Vorteil recht wenig gestaut und ich war trotz zunehmenden Rangierschwierigkeiten einigermaßen gut durch die Stadt gekommen. Glücklicherweise hatte auch noch jemand an der Rezeption des Campingplatzes gesessen, bei dem ich einchecken konnte. Die mittelalte Dame hatte mir ebenfalls geholfen, die alte Klapperkiste so leise wie möglich auf meinen Platz zu schieben und mir das nächste Toilettenhäuschen gezeigt.
Nach einem kurzen Rundgang, den ich zu Fuß auf dem Weg in die Stadt unternahm, musste ich zu meinem Überraschen feststellen, dass der Platz um einiges größer war, als ich gedacht hatte. Aber das war gar nicht so schlimm, wenn man bedachte, dass ich auf nähere Bekanntschaften verzichten konnte, die sich auf kleinen Stellplätzen schnell auftaten. Ich war einzig und allein hier, um Eli zu finden, ins Wohnmobil zu setzen und ihn mit nach Hause zu nehmen. Zumindest hatte ich es mir so vorgestellt.
Im Augenblick jedoch wollte ich endlich etwas essen, etwas das sich den ganzen Tag schon hatte hinten anstellen müssen. Aber jetzt, da ich dem Ziel meinen Bruder zu finden, einen Schritt nähergekommen war, machte sich der Hunger wieder in mir breit. Und das spürte ich nicht nur an meinem leeren Bauch, sondern auch an allen anderen Körperteilen.
Also trottete ich um zwei Uhr morgens mit knurrendem Magen durch die hell erleuchtete Düsseldorfer Innenstadt. Schon von weitem blitzte mir das „24 Stunden geöffnet"-Schild einer Dönerbude entgegen. Ein Angebot, das unmöglich auszuschlagen war und dazu noch zu dem unglaublichen Preis von drei Euro fünfzig. Unvorstellbar günstig, wenn man bedachte, dass die Dönerbuden in Berlin meist fünf Euro für ein bisschen Fladenbrot, Fleisch und Grünzeug verlangten.
Der Döner hier schmeckte sogar ziemlich gut, doch ich hatte solchen Hunger, dass mir mit großer Wahrscheinlichkeit sogar ein Haufen abgelaufener Kartoffeln gut geschmeckt hätte.
Zufrieden kauend spazierte ich wieder aus dem Imbiss heraus und musterte die Gegend.
Zuerst dachte ich, dass noch recht viel Trubel auf den Straßen herrschte, doch das Bild schien zu trügen: Die meisten Leute, die sich hier herumtrieben waren zwielichtige Gestalten. Ich kannte diese Szenarien nur allzu gut. Obdachlose und Junkies, etwas, das in Berlin fast zum Alltag gehörte, wenn man oft nachts durch die Straßen wanderte. Es waren nur wenige Passanten dabei, die meinen Weg kreuzten und alle hatten liefen sie in zügigem Tempo. Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, dass ich mich in der selben Geschwindigkeit bewegte. Das Viertel war mir nicht ganz geheuer, guter Döner hin oder her.
Ganz ruhig, Liv", befahl ich mir selbst und zog den Kopf zwischen den Schultern ein.
Ich bemühte mich meinen Blick gerade auf den Fußgängerweg zu richten und starr an den Obdachlosen vorbei zu laufen. Eine Taktik, die funktionierte, bis ein Junge auf einer Türschwelle auftauchte. Still und leise schlief er mitten in der kalten Nacht. Als ich dichter an ihn herantrat, konnte ich sein dünnes, blasses Gesicht erkennen. Seine Haut schimmerte in der Dunkelheit fast weiß und sah so fein aus wie Porzellan. Er mochte nicht viel älter als zwölf Jahre gewesen sein, doch genau konnte ich es nicht sagen. Sein Aussehen hatte etwas hartes und dennoch zerbrechliches an sich.
Als ich ihn so von der Seite musterte, überfiel mich eine Welle des Mitleides.
Er ist ein Kind, hallte es in meinem Kopf wider. Er hat hier nichts verloren.
Einsam und allein auf der Straße, in der Oktoberkälte, umgeben von allerlei merkwürdiger Gestalten. Kurzerhand kramte ich in meiner Hosentasche nach dem Restgeld, dass ich noch vom Imbiss übrighatte und legte es still und heimlich versteckt neben ihn. Er würde es hoffentlich am nächsten morgen sehen und mitnehmen. Er sah aus, als konnte er es gut gebrauchen.
Was waren schon sechs Euro fünfzig? Für mich nicht viel, doch für den armen, kleinen Kerl konnte es die Welt bedeuten.
Mit einem letzten verstohlenen Blick zurück zur Türschwelle, machte ich mich weiter auf den Weg zurück zum Campingplatz.
Normalerweise gab ich Obdachlosen kein Geld. Eine Sache, die mir meine Mutter anerzogen hatte, mit der Begründung, sie würden es für Alkohol und Zigaretten missbrauchen. Aber er sah nicht aus, als würde er seine letzten paar Euro für so etwas auf den Kopf hauen. Außerdem wäre er zu jung, um es sich selbst zu kaufen.
Auf einmal traf mich die Erkenntnis, dass es Eli genauso gehen konnte. Was wenn er genau in diesem Moment in einer anderen Türschwelle schlief? Was wenn er genauso krank und zerbrechlich aussah wie der kleiner Junge?

Ich begann mir nichts sehnlicher zu wünschen, als dass er mir genau in diesem Moment entgegenkommen würde. Es wäre so einfach gewesen. Ich hätte ihn mitgenommen und wir wären morgen früh gemeinsam wieder nach Hause gefahren. Doch Eli war nicht hier. Weit und breit gab es keine Spur von ihm. Ich wusste nur, dass er irgendwo hier war, in einer riesigen Stadt. Hier war er nur einer von vielen. 

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⏰ Last updated: Mar 05, 2019 ⏰

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