Kapitel 2

4 0 0
                                    

Eli blieb kurz die Luft weg. Er taumelte einige Schritte rückwärts und stieß gegen die Wand. Ehe er realisierte, was geschehen war, bekam er einen weiteren Hieb in die Magengrube. Sofort schlug Eli die Hände vor den Bauch und krümmte sich, begleitet von einem klagenden Laut, der ihm unkontrolliert entfuhr.
„Du undankbarer Scheißkerl", knurrte Alexander und schüttelte seine Faust aus. Mit einem schmerzerfüllten Keuchen knickte Eli schließlich ein.
Monika schrak auf, als sie begriff, was sich in diesem Moment direkt neben ihr abspielte.
„Alex, nein!", schrie sie und stürzte auf ihren Lebensgefährten zu, um ihn von Eli abzuwenden. Doch es half nichts. Ungehalten trat er noch einmal auf ihn ein und noch ein weiteres Mal, bevor Monika ihn endlich von ihrem Sohn wegzerrte. Alex stolperte zurück, ohne den hasserfüllten Blick von Eli abzuwenden, der schwermütig versuchte, sich aufzurichten.
Hektisch fiel Monika neben ihm zu Boden.
„Eli...", stammelte sie und nahm sein Gesicht zwischen die Hände. Eli blickte sie benommen an. Seine Lippe war aufgeplatzt und ein dünner Striemen floss ihm aus der Nase. Ein wenig benebelt wischte er sich das Blut vom Kinn.
Wutentbrannt drehte Monika sich zu dem Stiefvater ihres Sohnes um.
„Alex, was hast du getan?", zischte sie aus zusammengepressten Lippen hervor. Eine Träne rollte ihr über die Wange.
Doch anstelle sich davon erweichen zu lassen, blieb sein Blick hart.
„Er ist ein kleiner Wichser", brummte er, ohne Eli aus den Augen zu lassen. Aus rasender Wut heraus stand Monika auf und ging auf Alex zu. Sie begann wie wahnsinnig auf ihn ein zu schimpfen, doch Eli bekam nichts mit. Ob es an dem Klingeln in seinen Ohren lag, oder daran, dass er es nicht hören wollte, wusste er nicht. Es war ihm auch egal. Ihm war nur klar, dass er weg musste, so schnell wie nur möglich. Ächzend und unter stechenden Schmerzen in den Rippen, zog er sich an der Wand hoch. Vorsichtig bemühte er sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Irgendein Ziehen im Unterleib machte es ihm beinahe unmöglich zu gehen, aber mit aller letzter Kraft schleppte er sich den Flur entlang und die Treppe hinauf. Alex und seine Mutter ließ er dabei einfach hinter sich. Sie bemerkten nicht einmal wie er sich davon schleifte. Leise schlurfte er in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich und ließ sich plump auf sein Bett fallen.
Er war unfähig zu begreifen, was gerade geschehen war. Viel mehr wollte er es nicht. Alex hatte ihm schon oft das Leben zur Hölle gemacht. Seit dem ersten Tag konnte er Eli nicht ausstehen, etwas, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Eine Auseinandersetzung zwischen den beiden stand gewisser Maßen an der Tagesordnung. Sie hatten sich schon oft gestritten und beleidigt, so oft, dass Eli bereits vor Jahren aufgehört hatte zu zählen. Doch das alles geschah immer unter dem Radar seiner Mutter. Einerseits, weil Alex sie nicht wissenlassen wollte, wie er Eli behandelte und andererseits, weil Eli Monika nicht damit belasten wollte. Es wäre ihm nahezu albern vorgekommen, mit so etwas zu seiner Mutter zu gehen. Er war alt genug seine Probleme selbst zu lösen, auch wenn es um Streit mit seinem Stiefvater ging.
Selbst, als Alex ihm schon einmal eine Backpfeife verpasst hatte, hatte er den Mund gehalten. Eli ließ sich vieles gefallen, das mochte sein, doch der Vorfall heute ging sogar ihm zu weit. Auf einmal wurde ihm klar, dass er das alles viel zu lange mitgemacht hatte. Er ließ Alex Verhalten schon seit dem aller ersten Tag über sich ergehen und es war an der Zeit einen Schlussstrich zu ziehen.
Kurz entschlossen stand er auf, ging zu seinem Kleiderschrank und zog einen Beutel heraus. Es musste sich etwas ändern. Und zwar dringend.
Hastig griff er die ersten Teile jedes Wäschestapels hinunter und stopfte sie in den alten Stoffsack.
Es reichte ihm. Keinen Tag länger wollte er mehr mit Alex zusammenleben und zugegebenermaßen auch nicht mit seiner Mutter, der Frau, die sich allem Anschein nach gar nicht um ihr Verhältnis zueinander scherte. Eli wollte nur noch raus, weg von diesem kleinen Städtchen, wie schon so oft. Aber dieses Mal würde er nicht am nächsten Tag wieder auftauchen, wie er es bisher immer getan hatte, wenn er eigentlich hatte ausreißen wollen. Nein, dieses Mal war es endgültig. Nie wieder wollte er einen Fuß in dieses Haus setzen. Der Punkt war gesetzt. Alex und seine Mutter konnten sich auf den Kopf stellen, wenn sie wollten.
Es war, als würde Eli nach langer Zeit im Nebel endlich wieder klarsehen können. Er sah einen Ausweg, nur einen einzigen. Gehen, das war die einzige Lösung. Es würde ohnehin nur noch knappe sechs Monate bis zu seinem achtzehnten Geburtstag dauern. Ob er jetzt schon abhaute oder doch erst in einem halben Jahr, machte im Grunde keinen Unterschied, denn gehen würde er sowieso.
Also schlich er sich ins Badezimmer und schmiss alles in den Beutel, das er gebrauchen konnte: Duschgel, Zahnbürste und Deodorant, gefolgt von weiteren Kleinigkeiten, für die er vielleicht eines Tages Verwendung finden würde.
Zum Schluss wühlte er, wieder in seinem Zimmer, den alten Schlafsack hervor, von dem er zuletzt Gebrauch gemacht hatte, als seine Eltern noch glücklich verheiratet gewesen waren und sie einen Campingurlaub an der Nordsee gemacht hatten.
Außerdem kramte er in der Schreibtischschublade noch kurz nach seinem Geldbeutel. Nach einem Blick hinein, stellte er fest, dass er mit knappen Hundertzwanzig Euro und ein paar Groschen nicht sonderlich gut gerüstet war, aber das hinderte ihn nicht. Er wollte nur noch eines: Fort.
Entschlossen schulterte er seinen vollgestopften Beutel mitsamt dem Schlafsack und ließ die schmale Geldbörse in der Tasche seiner Jacke, die er immer noch anhatte, verschwinden. Dann stieß er die Tür zum Flur auf. Es mochten vielleicht fünfzehn Minuten seit dem Streit vergangen sein, allerdings kam es ihm vor, als wären seitdem Tage vorbeigezogen.
Eli war sich eigentlich sicher gewesen, dass seine Mutter immer noch mit Alex in der Küche diskutierte, doch seine Sicherheit schwand, als er ihr blasses Gesicht im Flur antraf. Für einen kurzen Augenblick starrte er sie an. Kummer lag in ihren blauen, kalten und verweinten Augen. Es hatte etwas von einer Entschuldigung, wie sie ihn so ansah, doch davon ließ sich Eli nicht mehr erweichen. Zeiten, in denen ihn simple Entschuldigungen besänftigt hatten, hatte es viel zu lange gegeben und waren ab dem heutigen Tag für immer vorbei.
Flink wich er Monika aus und machte sich auf den Weg nach unten.
„Wo willst du hin?", fragte sie völlig konfus. Ihre Stimme klang zittrig. Es hörte sich an, als wollte sie ihn ermahnen, doch der Versuch ging in nackter Besorgnis unter.
„Weg", sagte Eli knapp und sah sie nicht.
„Wohin?", wollte sie mit erdrückender Stimme wissen. Sie wollte ihm folgen, blieb jedoch auf der ersten Treppenstufe stehen, als würde eine unsichtbare Mauer sie daran hindern weiterzugehen.
„Elian?", hakte sie nach, als er keine Antwort gab.
Weg. Überall hin, nur nicht hier", erklärte er bitter, ohne sich umzudrehen. Er wollte es sich nicht anmerken lassen, allerdings fiel es ihm schwerer als gedacht. Doch ein Abschied würde alles noch schlimmer machen. Seine Mutter würde ihn dazu zwingen, zu bleiben, aber er musste gehen. Er hatte die Wahl zwischen einem unbestimmten Leben, weit weg von seiner Mutter und seinem Stiefvater und seinem Leben, wie er es kannte und hassen gelernt hatte. Nein, seine Entscheidung stand fest.
„Du bleibst hier!", befahl Monika.
Eli zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er die Hand an den Türgriff legte und ihn hinunterdrücke.
„Komm sofort zurück", hörte er seine Mutter rufen, bevor er sich durch den Türspalt zwängte und die frische, kühle Nachtluft seine Lungen füllte.
„Eli!", schrie Monika und schlug auf das Treppengeländer ein.
Eli wusste, dass das die einzige Chance war, die er hatte. Er ging schneller und schneller, irgendwo hin. Seine Rippen stachen bei jedem Atemzug und seine Wange pulsierte merkwürdig, trotzdem spürte er in diesem Moment nur ein einziges Gefühl: Freiheit.

MilleniumWhere stories live. Discover now