Ein unschuldiges kleines Kreuz aus Messing wurde von Adam gefertigt, der es seiner Tochter Sarah zu ihrem zehnten Geburtstag schenkte. Von diesem Tag an trug sie es jeden Tag. Das kleine Kreuz hörte sich Sarahs Gebete und Sorgen an. Sie wünschte sich und ihrer Familie Glück und Gesundheit. Sie wünschte sich nicht von der Pest getroffen zu werden. Sie wünschte sich einen starken Mann. Sie wünschte sich gesunde Kinder. Sie wünschte sich, dass ihre Tochter ihr Kreuz bekam, als sie im Kindbett starb.
Ihre Tochter Maria wuchs zu einem schönen Mädchen auf. Sie wünschte sich längeres Haar. Sie wünschte sich mehr Verehrer. Sie wünschte sich, dass ihr Mann sie nicht mehr schlagen würde. Sie wünschte sich, dass der Winter aufhören möge. Sie wünschte sich einen Sohn. Sie wünschte sich, dass ihr Sohn stark genug für den kommenden Winter sein würde. Sie dankte Gott. Maria wurde fast 40 als sie eines Winters an einer Lungenentzündung starb. Ihr Sohn schenkte seiner Tochter Ruth das Kreuz.
Ruth war ein lebhaftes, intelligentes Kind. Sie wünschte sich Bücher. Sie wünschte sich, dass die Sonne mehr scheinen würde. Sie wünschte sich, dass der Junge aus dem Nachbardorf auch in sie verlieben würde. Sie wünschte sich, dass der Junge sich wieder entlieben würde. Sie wünschte sich zur Schule gehen zu können. Sie wünschte sich ein Junge sein. Sie wünschte sich, dass sie aufhören könnte von nackten Frauen zu träumen. Sie wünschte sich, dass sie in einer anderen Welt geboren wäre. Sie wünschte sich, dass das Seil nicht riss.
Es war Leah, Ruths Schwester, die ihre Leiche fand. Sie wünschte sich, es wäre nur ein Traum gewesen. Sie wünschte, sie hätte von Ruths tiefer Trauer gewusst. Sie wünschte sich, dass ihre Kinder aufhören würden zu streiten. Sie wünschte sich, dass das Brot endlich aufging. Sie wünschte sich, dass ihr Mann aufhören würde, anderen Frauen hinterher zu schauen. Sie wünschte sich, ans Meer zu fahren. Sie wünschte sich, dass sie Ruth nochmal sehen könnte. Sie wünschte, es gäbe einen Himmel.
Als Magdalene zwölf wurde, bekam sie von ihrem Vater das Kreuz ihrer Großmutter Leah. Sie wunderte sich, was das kleine Kreuz wohl erlebt hatte. Wieviele Gebete, Tränen, Danksagungen und Wünsche es gehört hatte. Sie küsste das kleine Kreuz und wünschte sich, dass sie glücklich sein würde.
Das kleine Kreuz lag lange in einem Museum. Viele Menschen bestaunten es. Es war sehr schön. Ein Relikt. Ein wunderbar gefertigtes Relikt. Etwas, was die Zeit überdauerte.
Dann schloss das Museum und es lag lange in einem Archiv. Dann schloss das Archiv und es lag lange in einem anderen Archiv. So wanderte es von Sammlung zu Sammlung, bis es schließlich in einem Müllberg landete. Und eines Tages starben die Menschen aus und ein winziges Bakterium und seine Kinder, das die Evolution dazu gebracht hatte Messing zu synthetisieren, aßen das Kreuz auf.
In seinen letzten Stunden dachte das Kreuz nicht an Adam, der es erschaffen hatte, nicht an Sarah, die Stunden weinend gebeten hatte oder all ihre anderen Nachkommen, nicht an die Zeit im Museum, nicht an irgendeinen anderen Moment seiner Existenz.
Denn all die tiefe Bedeutung, die das Kreuz für die Menschen hatte. All der Glaube, die Liebe und die Hoffnung, all die Bewunderung, Gedanken zur Geschichte. All das schrieben die Menschen dem Kreuz zu, das sie alle überdauerte und sich trotzdem an nichts erinnerte.