Ihr rotes Kleid, das sie letzten Sommer auf dem Flohmarkt auf 4€ runtergehandelt hatte, wehte im lauen Nachtwind. Sie vollführte eine elegante Pirouette und es schwang so, wie ein Kleid es tun sollte. Sie grinste ihre Begleitung an. „Wollen wir noch ne Runde drehen?", fragte er in der Hoffnung sich noch ein wenig Zuneigung erstehlen zu können, bevor sie 3 Tage nicht antworten würde, um interessanter zu erscheinen. Zumindest war das die Erfahrung, die er mit anderen gemacht hatte.
Sie schlenderten am Fluss entlang, betrachteten die schimmernde Reflexion der Straßenlaternen und lauschten dem Rascheln der Bäume. Es war still, seltsam still nach diesem Abendessen, das vor Witz und Esprit geschäumt hatte. War jetzt der Zeitpunkt für Tiefgründigkeit gekommen? Für Fragen nach dem Lebenssinn oder Familiendramen? „Es... ist schön?", begann er. Sie musste über den unbeholfenen Versuch grinsen, ohne Wetter Small-Talk zu beginnen. Denn bekanntlich verschwand jede Spur von Wetter in der Dunkelheit, so wie alles Alltägliche im Angesicht der Unendlichkeit eines Sternenhimmels sich verabschiedete.
Sie wunderte sich, in wie vielen Paralleluniversen sie mit ihm spazieren ging. Im Geiste sah sie die Parade all ihrer Doppelgänger, die neben ihnen entlang liefen.
Einige schenkten sich verstohlene Blicke. Einige hielten schon Händchen, einige küssten sich zum ersten, zweiten, dritten Mal, wieder andere betrachteten die Sterne, eine telefonierte, während einer versuchte so zu tun als würde er nicht hinhören. Sie lief die Parade ihrer Doppelgängerinnen entlang. Die meisten schienen glücklich, mit ihm hier zu sein. Doch einige dachten noch an den Ex, einige wunderten sich, was wohl in der letzten Klausur rausgekommen war, einige fanden sein Aftershave ein wenig zu stark.
Da auf die Bank setzten sich fast die Hälfte ihrer Doppelgänger hin. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie eine einen anschrie und davonrannte. Eine zog ihren Slip aus und eine andere seine Jacke an. Einer öffnete seinen Reißverschluss für das Versprechen von Sex und ein anderer um die Eiche an der Ecke zu ernähren. Es war eine bunte Kakophonie von Stimmen die lachten, scherzten, sich Dinge in die Ohren raunten, zögerlich sprachen, kicherten, sich unterhielten und zwei, die aufgrund eines lästigen Ohrwurms „Alle Kinder lernen lesen" sangen.
Die buntesten Kleider ihres Kleiderschranks und all den Kleiderschränken, die sie hätte haben können, spazierten den Weg auf und nicht ab, da sie alle in die gleiche Richtung gingen.
Sie begegneten Obdachlosen, nächtlichen Joggern, betrunkenen Jugendlichen und Eichhörnchen. Sie machten Bilder von Vollmonden. Sie stolperten und fingen sich. Sie stolperten und fingen sich nicht. Sie stolperten und fielen hin und schürften ihr Knie auf. Sie stolperten und knickten sich den Fuß um. Sie stolperten und fielen hin und schürften ihr Gesicht auf. Sie halfen sich wieder auf.
Sie betrachtete die mutigen Vier, die sich in den Fluss wagten. Wie sie lachten und einander nass spritzten und hofften niemand würde in dieser Viertelstunde vorbeikommen. Einige sprachen über den Hummus von Aldi, einige über toxische Maskulinität, überraschend viele von den einen erzählen der einen von der Krebsdiagnose, die er als Kind erhalten hatte. Einige tauschten sich über Bücher aus, die sie gelesen hatten, Pizzalieferdienste, die sie ausprobiert hatten oder Städte, in denen sie waren aus. Einige schwiegen, da sie den gemeinsamen Nenner nicht gefunden hatten. Einige, weil es so angenehm war.
„Nun.", sagten alle. Sie waren an der Ecke angekommen, wo sie abbiegen musste. Die meisten lächelten sich an. „Nun.", sagten die meisten anderen zurück. „Es war schön.", hörte sie. „Lass uns das wiederholen.", sagten andere. „Willst du noch mit zu mir?", fragten wieder andere. „Ehm, ciao.", sagte eine und konnte es kaum erwarten wegzukommen. „Ich find dich echt...", begannen viele. „Nett." „Lieb." „Interessant."
„Gut.", sagte sie und kam wieder in ihrer Realität an. Sie zwinkerte ihm zu. Er lächelte. „Ich ruf dich an.", rief er und schaute ihr hinterher, bis der letzte Zipfel ihres waldgrünen Kleids wehend in der Dunkelheit verschwand.