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Der nächste Morgen ist schrecklich. Denn ich bin alleine. Am Küchentisch liegt ein kleiner Zettel, voll beschrieben mit Alex Worten. Ich soll mich wie Zuhause fühlen, er sei schon in der Universität, Kyle und Nick bei der Arbeit. Langsam setze ich mich auf einen Stuhl, sitze einfach nur am Küchentisch und starre Löcher in die Wand. Alex weiß es nicht, doch meine größte Angst ist es, alleine zu sein. Und trotzdem bin ich so oft alleine, eigentlich fast immer. Meine Hände wandern langsam über meine Hosenbeine, versuchen, die Panik abzustreifen. Ich kann eigentlich nicht mehr von Angst sprechen: Es ist nackte Panik, die mich jedes Mal packt und nicht enden will. Mein Blut beginnt wieder, sich zu erhitzen, doch dieses Mal ist es viel schlimmer. Denn die Panik verschwindet nicht. Meine einzige Lösung ist es, nach draußen zu gehen. Und das tue ich auch.

Ich stehe mitten am Gehsteig, umrundet von hundert Menschen, denn es ist New York. Die Menschen ziehen alle an mir vorbei und ich versuche, mich zu beruhigen. Ich versuche es wirklich, doch ich kann nicht. Panisch bemerke ich, wie meine Hand grün wird. Und dann renne ich los, suche eine leere Gasse. Doch da ich mich nicht auskenne, finde ich keine. Und dann stehe ich mitten auf der Straße, als Chimäre. Die Flügel auf meinem Rücken, die ich noch nicht richtig wahrgenommen habe, erlauben mir, wegzufliegen. Doch die Schreie der Menschen und das Klicken der Fotoapparate kann ich gut hören. So schnell ich kann fliege ich davon und es ist ein schräges Gefühl, keinen Boden unter den Füßen zu haben. In einer kleinen Gasse, die ich von hier oben gefunden habe, lande ich und verkrieche mich ganz nach hinten, versuche, alles zu verdrängen. Je ruhiger mein Atem wird, desto langsamer schlägt mein Herz. Ich kann das hier schaffen, rede ich mir ein. Erfolgreich. Dieses Mal läuft die Verwandlung langsam ab, ich kann sehen, wie ich langsam wieder meinen Körper zurückkriege und mir die roten Haare locker auf den Rücken fallen. In einer Scherbe auf dem Boden kann ich mein Gesicht erkennen. Ich bin leichenblass, was meine Sommersprossen nur noch mehr betont. Meine Augen wirken fast schwarz, die Angst hat sie verändert.

***

Abends sitzen wir zu viert auf der Couch, ich angekuschelt an meinen großen Bruder. Auf einem Sender läuft gerade ein spannender Film, als plötzlich eine Eilmeldung eingeblendet wird. "In New York, Vernon Ave ist heute ein komisches Wesen aufgetaucht. Es hat niemanden angegriffen, muss aber trotzdem beseitigt werden!" Ein Bild von mir wird eingeblendet, natürlich als Chimäre. "Es ist ein Monster, ich dachte ich muss sterben!", schreit eine Frau aufgeregt im Bild. Die Nachrichtensprecherin blickt wieder in die Kamera: "Die Avengers kümmern sich darum, dieses Monster wegzusperren und New York wieder sicher machen. Sollten Sie etwas herausfinden, melden Sie sich!"
"Holy Shit", murmelt Kyle fassungslos, mein Bruder und Nick bleiben still. Mein Bruder ist blass: "Das ist genau hier. Ava, du verlässt das Haus bitte nicht, bis dieses Monster weg ist!" Schnell nicke ich, doch in meinen Gedanken schreie ich. Die Avengers nehmen Jagd auf mich. Auch wenn ich jetzt eine Chimäre bin, fliegen kann, bringt es mir nichts. Gegen die Avengers habe ich keine Chance. Es darf keinen weiteren Zwischenfall geben.

***

Jetzt ist immer jemand bei mir Zuhause, ihnen geht es wohl nicht gut dabei, ein 19-jähriges Mädchen alleine Zuhause zu lassen, wenn in der Nebenstraße ein "Monster" gesichtet worden ist. Würden sie wissen, dass ich dieses Monster bin, würden sie wahrscheinlich die Krise kriegen. In den Nachrichten geht es jeden Tag darum, vor allem darum, dass es nicht weiter gesichtet worden ist und es wieder ruhiger ist. Das ich immer noch dort bin, nur eingesperrt in einem Haus und von drei Jungs verwöhnt werde, wissen die nicht. Sie wissen auch nicht, dass ich ein normales Mädchen bin, das eigentlich ziemlich harmlos ist. Harmloser als ich aussehe, wahrscheinlich.

Kyle sitzt mir gegenüber am Tisch, er mustert mich still. Er denkt, ich bekomme es nicht mit, doch es ist offensichtlich. Stumm trinke ich meinen Tee, lese die Zeitungen. Der Artikel zu mir ist auf der zweiten Seite, was mich nicht überrascht. Ein unbekanntes Wesen in New York, Zeugen und auch die Avengers sind dazu interviewt worden. Beim Umblättern der Zeitung schneide ich mich, ein Brennen ist zu spüren. Wortlos stehe ich auf, gehe ins Bad. Schwarzes Blut tropft aus der Wunde, schnell verbinde ich sie. Im Spiegel warte ich eigentlich nur darauf, dass ich zu dem Monster werde. Doch es passiert nicht. Mein Atem geht ruhig. Ich habe es geschafft.

Chimäre || Avengers ffWo Geschichten leben. Entdecke jetzt