WE-A-5 Vanessa Payton 01.01.69 n.S. - 01:30 Uhr

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Vanessa lag auf der halbrunden Couch, den Kopf auf ein Kissen gebettet und sah auf den Bildschirm vor sich. Sie hatte sich unter einer dünnen Decke zusammengerollt und gähnte leicht. Ihr Bruder brachte ihre Oma ins Bett und damit war ihre familiäre Pflicht abgegolten. Gemeinsam hatte man das neue Jahr begrüßt, aber jetzt sehnte sich Vanessa nach Schlaf. ›c‹Sie blinzelte erschöpft. Die Bilder, die seit über einer Stunde vom Kontrollraum aus in alle Wohneinheiten gestreamt wurden, offenbarten wenige Details von der Oberfläche. Es sah aus wie immer. In der Ferne schimmerte ein schmaler Lichtstreifen am Horizont und tauchte die Welt in ein zwielichtiges Dämmerlicht. Die Installationen der Solarpaneele hoben sich schematisch vom Rest der Umgebung ab, blieben aber in tristem Grau gefärbt.In wenigen Tagen war die Temperatur hoch genug. Dann würde sie ihre Kollegen wieder nach draußen begleiten. Sie gehörte zu den Agrartechnikern in der Station und freute sich auf ihre dritte Saison, die mit den jetzigen Twilight Days ihren Anfang nahm. Im Anschluss an die vierte standen die Abschlussprüfungen an und schloss sie diese erfolgreich ab, war sie fertig ausgebildet. Wie würde sich ihr Leben dann ändern?Aus dem Elternhaus auszuziehen war keine Option, demnach erahnte sie, dass die Veränderungen nicht gewaltig wären. Sie bewohnte mit ihrer Familie eine Wohneinheit, die aus vier Modulen konstruiert war. Das Eingangsmodul war bei allen normalen Einheiten gleich. Es bestand aus einem kleinen Eingangsflur, von dem zwei Türen abgingen. Einmal in das kompakte Badezimmer, die andere führte in die ebenso winzige Küche. Das anschließende Modul diente als Wohn- und Gemeinschaftsraum. Ein Tisch mit ausreichend Stühlen für sämtliche Bewohner, eine Couch, eine Mediawand stellten die Standardausstattung dar. Innerhalb der Station behandelte man die Menschen gleich – fast alle. Die Wohneinheiten der Stationsführung oder des Rates kannten nur wenige. Vanessa vermutete, dass nicht einmal ihr Vater wusste, wie die Oberen lebten. An den Seiten des zentralen Moduls schlossen sich die beiden Schlafmodule an. Eines mit einem Doppelbett, welches von ihrem Vater und ihrer Großmutter bewohnt wurde und eines mit zwei einzelnen Betten, die von einer schmalen Regalwand getrennt wurden.Wirkliche Privatsphäre war auf diese Art absolut nicht möglich und für eine junge Frau von siebzehn Jahren war eine solche Situation mitunter nicht leicht. Ihr Zwillingsbruder bewohnte den anderen Teil des Zimmers und das war ihr Glück. Die mythische Verbindung zwischen Kindern, die sich in der Schwangerschaft den Leib der Mutter teilten, war vermutlich der Grund, warum sie sich so verstanden. Sie spürte das Band zwischen ihren Herzen und fühlte sich ihm nah, selbst wenn er nicht in ihrer Nähe war.»Wolltest du nicht feiern gehen?«Brummelnd schüttelte sie den Kopf. »Schläft Oma?«, entgegnete sie verschlafen ihrem Bruder.»Ja. Sie erzählte noch von Blumen, die sie als Kind gepflückt hat, von Sonnenaufgängen, von damals halt.«Valentin schob sich über die Lehne der Couch und rutschte auf ihre Füße. »Hey!«, beschwerte sie sich und zog die Beine enger an ihren Leib.»Tschuldige«, grinste ihr Bruder und musterte sie erneut.»Also?«»Was?«»Gehst du nun noch feiern?«Sie schüttelte den Kopf und schwieg. Vanessa beabsichtigte nicht, das Thema weiter zu verfolgen, und lenkte den Blick an ihrem Bruder vorbei.»Nessi?«Sie ahnte, dass er nicht locker lassen würde, war aber absolut nicht gewillt darüber zu reden.»Hm?«, murrte sie daher und schloss die Augen. Vanessa liebte ihren Bruder, sie vertraute ihm und teilte jedwedes Problem, welches sie bedrückte. Andersrum war es ähnlich. Sie waren eins in so vielen Charakterzügen. Sie spürte seinen Blick und öffnete wieder die Augen, setzte sich auf und lehnte sich an. Dabei zog sie die Beine zu sich und legte den Kopf auf die Knie. »Du lässt nicht locker, oder?«»Ebenso wenig, wie du es andersherum tun würdest«, konterte er. Ihr Bruder war ein großer, muskulöser junger Mann mit blauen Augen und markanten Augenbrauen. Charmant, gut aussehend und damit für die kleine Gruppe der Mädchen der Station der Schwarm überhaupt. Wäre sie an deren Stelle gewesen, ihr wäre es ebenso ergangen. Aber sie war seine Schwester und besaß dadurch deutlich mehr Wissen über ihn als jeder andere.»Was soll ich denn feiern?«, seufzte sie leise.»Den Beginn der Twilight Days?«Sie zuckte mit den Schultern. »Ja schon, nur ...«»Nur?«, hakte Valentin umgehend nach. »Mit wem denn?«»Bit?«»Ja toll. Und wo ist er? Im Kommandoraum, bei Paps. Manchmal glaube ich, er macht das extra.«»Wer? Dad oder Bit?«»Beide«, knurrte sie und sah demonstrativ von Valentin auf den Bildschirm. Ihr Bruder antwortete nicht, sondern rutschte langsam näher. Er legte seinen Arm um sie und augenblicklich breitete sich das angenehme Gefühl der Geborgenheit aus.»Weder Dad noch er würden es wagen, dich absichtlich derart zu verärgern, Nessi«, flüsterte er. Dennoch fühlte es sich aber anders an. Warum musste ihr Vater ständig die erste Schicht des neuen Jahres übernehmen? Warum musste Chris in seinem Team arbeiten? Sie glaubte nicht an Zufälle, für sie war es geplant! Vanessa vermutete schon eine Weile, dass ihr Vater die Absicht hatte, zu verhindern, dass sie mit Chris allein war. »Verdammt, ich bin ein großes Mädchen«, motzte sie und Valentin legte einen Finger auf ihre Lippen. »Pscht. Du weckst noch Oma«, warnte er.Stumm nickte sie. Oma Mindy war alt und Vanessa war schon überrascht gewesen, dass sie so lange wach geblieben war. Schlaf war ihr sonst äußerst wichtig, aber ebenso wichtig war ihr, dass ihre Enkel nicht allein feierten, wenn ihr Vater seine Schicht im Kontrollraum absaß.»Sorry«, wisperte Vanessa und schloss die Augen. »Paps hat was gegen Chris. Ich glaube nicht, dass es Zufall war, dass er zu ihm ins Team kam«, sprach sie ihre Vermutung aus.»Warum sollte er das tun?«»Damit wir solche Nächte nicht gemeinsam verbringen?«Valentin grinste.»Als ob euch das hindern würde, oder?«Hitze stieg in ihr auf, so dass sich ihre Wangen röteten, und Vanessa griff forsch nach einem Kissen, um es in Richtung ihres Bruders zu werfen.»Du bist unmöglich!«Spielend leicht fing Valentin es auf und drückte es an sich.»Habt ihr denn schon?«, fragte er ernst aus heiterem Himmel.Vanessa schluckte. Sie strich sich eine Strähne des blonden Haares aus der Stirn und senkte den Blick. Dabei lächelte sie, überlegte und schüttelte den Kopf. Keinem anderen hätte sie derart offen gestanden, wie es um die Beziehung der beiden stand. »Aber seid auf dem Weg dahin«, resümierte er. Abermals nickte sie scheu. Die Momente der Zweisamkeit waren selten, dafür erlebte sie diese umso intensiver. Sie war froh, dass Chris eine eigene Wohneinheit besaß, denn nur so hatten die beiden eine Chance sich aufeinander einzulassen. »Es ist niedlich, wenn du rot wirst«, schmunzelte Valentin. »Ist doch in Ordnung. Ich freue mich für euch.«»Da bist du der Einzige«, brummte sie.»Dad sorgt sich nur. Vielleicht zwischendurch ein wenig zu viel, aber ... wir sind alles, was er noch hat.«»Ich bin aber nicht Ma!«»Natürlich nicht. Aber ich glaube, es ist schwierig für einen Vater, seine Tochter los zu lassen. Dann ist da dieser junge Kerl und er sorgt sich, ob er ernsthaft an dir interessiert ist, oder nur das eine will.«»Toll und darum darf ich nicht leben?«»Doch, aber das wird er auch noch verstehen.«»Und wann?«»Das weiß ich nicht«, lächelte er. Sie rückte näher zu ihm, drückte sich in seinen Arm, bis sie sein Herz schlagen hörte. »Kannst du nicht mit ihm reden?«»Dad?«Sie bejahte.Valentin atmete hörbar aus. »In Ordnung«, sprach er leise. »Unter einer Bedingung, nein zwei.«Sie runzelte die Stirn. Ihr Bruder hatte des Öfteren den Schalk im Nacken. Sie richtete sich und sah ihm in das grinsende Gesicht. »Welche?«»Du gehst morgen feiern!«, forderte er und hob den Daumen der rechten Hand. »Und zweitens ...«Skeptisch hob sie eine Augenbraue. »Schenkst du mir einen Kuss von Chris«, kicherte er.»Du bist blöd!«, fauchte sie und warf die Decke über seinen Kopf.Schelmisch grinsend steckte er das Haupt wieder in die Höhe. Valentin schnitt eine Grimasse und sie lachte laut auf.»Nun?«»Ja zum Ersten«, schmunzelte sie. »Nein, zum Zweiten. Chris ist meiner.«Valentin seufzte und zog sie wieder in die Arme. »Damit habe ich gerechnet.«Sie lag mit dem Kopf auf seiner Brust und genoss die brüderliche Nähe. Verlegen biss sie sich auf die Lippe und flüsterte dann: »Hast du es Paps endlich gesagt?«»Was meinst du?«»Naja, du und Männer.«Er reagierte eine Weile nicht.»Val?«, fragte sie nach. »Ja, und nein. Habe ich nicht. Der Zeitpunkt ergab sich nicht.«»Was soll er schon sagen?«»Ich weiß nicht. Er ist mein Vater. Eigentlich sollte es ihm egal sein, ob ich auf Frauen oder Männer stehe, es ist nur ...«Sie hob den Kopf, drehte sich um und lächelte. »Du hast Angst«, stellte sie fest und Valentin nickte. »Ja. Irgendwie schon. Die Station ist nicht groß genug, als das wir uns aus dem Weg gehen könnten, wenn er nicht so reagiert, wie ich es mir wünsche.«Unrecht hatte ihr Bruder nicht. Eintausendzweihundertachtundachtzig Personen lebten in der Station. Es gab zehn identische Wohnebenen, auf denen die Wohneinheiten aufgeteilt waren. Der Platz war begrenzt und Streit innerhalb einer Familie wurde dadurch automatisch zum Problem. Wohnstätten wurden zentral verteilt. Dabei bedachte man die Bedürftigkeit priorisiert und nicht Streitigkeiten. Streitereien kamen und verschwanden, darum galten sie nicht als Grund für eine bevorzugte Zuweisung. Daher verstand sie ihn. Seitdem er vierzehn war, war ihm klar, und damit ihr, dass er homosexuell war. Vanessa kannte ihn nicht anders und es hatte sie nie gestört. Tragischerweise ähnelte sich ihrer beider Männergeschmack. Im Endeffekt bekam niemand der zwei Geschwister den Schwarm. Valentin nicht, weil das Gegenüber kein Interesse hatte und sie nicht, weil sie zu zurückhaltend blieb. Es grenzte schon an ein Wunder, dass sie und Chris Zhan ein Paar geworden waren. »Wenn, gehe ich mit dir«, schlug sie vor, doch Valentin winkte ab. »Das würde er noch viel weniger erlauben.«»Vermutlich hast du Recht«, gähnte sie. Valentin strich durch ihr Haar und sie lächelte. Sein Brustkorb hob und senkte sich, während er atmete und dies beruhigte sie.»Zuerst sorgen wir dafür, dass er Chris akzeptiert. Ich bin nicht so wichtig.«Umgehend schlug sie ihn mit der Faust auf den Bauch. Sie verzog das Gesicht. Ihre Hand schmerzte, da er die Muskeln anspannte.»Sag so was nicht. Du bist wichtig!« Wütend sah sie ihm direkt in die Augen. »Du bist mein Bruder. Niemanden auf dieser Station kenne ich so gut und so lange wie dich!«Halbherzig hob er die Hände zur Abwehr. »Ist ja gut, kleine Schwester«, lachte er und bekam den nächsten Hieb ab.»Ganze dreizehn Minuten älter bist du. Bild dir darauf nichts ein!«, konterte sie und stand schwungvoll auf. Die Welt schien sich zu drehen und kurzzeitig hielt sie sich an der Lehne der Couch fest. Vanessa atmete durch und stemmte die Hände in die Hüften, ehe sie mit dem Finger auf ihn deutete.»Du ziehst dir nun was an und dann gehen wir beide gemeinsam feiern. Verstanden!«Entschlossen stapfte sie in ihr Zimmer und drückte den Schalter, der den Schrank öffnete. Geräuschlos fuhr die Rolltür nach oben. Valentin rührte sich nicht von der Stelle.»Wenn ich gleich fertig bin und du nicht, gibt es Ärger!«, warnte sie ihn und zog das lange Shirt, welches eher einem Nachthemd glich, über den Kopf. Ihre Auswahl an Kleidung war eingeschränkt. Die Stoffe stammten von den Kokons einiger Larven, die weiterverarbeitet wurden. Alternativ ernteten sie Pflanzen, deren Fasern die Tuchmacher der Station dann zu Leinen veredelten. Sie griff in den Schrank und zog die zwei einzigen Kleidungsstücke heraus, die für das Feiern geeignet waren. Sie drehte sich zu ihrem Bruder und präsentierte ein simples weißes Hemd. Ihre Oma hatte es ein wenig geändert und den Ausschnitt deutlicher tiefer geschnitten.»Das oder ...«, fragte sie Valentin und hielt sich die Alternative vor den Körper. Es störte sie nicht, dass sie oben herum nackt war. Es war ihr Bruder und die Nähe, die unweigerlich in dem beengten Zimmer aufkam, barg keinen Raum für falsche Scham.Die Alternative war ein Kleid, welches ebenfalls aus weißem Stoff gearbeitet war. Großmutter Mindy hatte dieses ebenso geändert. Jetzt war es leicht tailliert und der Rock bis zum Knie gekürzt. Aber nicht weiter, hatte sie ihrer Enkelin gesagt. Vanessa liebte Weiß. Je heller und klarer, desto besser. Ihre Oma hatte ihr erklärt, wie sie die Stoffe blich, das Weiß zum erneuten Strahlen brachte, und sie war dankbar dafür. »Valentin!«, stampfte sie auf den Boden und endlich sah ihr Bruder zu ihr. »Aufstehen und was soll ich anziehen?«Er verzog das Gesicht, kletterte über die Rückenlehne und sah sich die beiden Optionen an. Abwartend hob sie eine Braue. »Ich nehme an, du ziehst noch einen BH an?«Für einen Augenblick spielte sie frech mit dem Gedanken, diesen wegzulassen, nickte aber dann. Die Vorstellung daran, dass sie alle anstarrten, missfiel ihr. Ihr Magen krampfte dabei. Bei Valentin und Chris war das was anderes.»Natürlich. Ich habe noch Anstand«, bekräftigte sie.»Nimm das Kleid«, schlug er vor und sie lächelte. »Dann kommst du mit?«Grummelig nickte er.»Gib mir fünf Minuten.«

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