Stromweiche A Melissa Akpobane 03.01.69 n.S. - 13:45 Uhr

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Melissa starrte auf den Bildschirm. Zahlen über Zahlen wanderten über den Monitor. Die Arbeit in der Stromweiche war die meisten Tage lang und monoton und bestand mehr aus Kontrolle als aus tatsächlicher Beschäftigung. Ihr gefiel der Job, insbesondere die Ruhe und Abgeschiedenheit. Die Schicht verbrachte sie mit einem Kollegen. An ihm schätzte sie, dass er meist las, schlief und vor allem, dass er sich nicht mit ihr beschäftigte. Die Auswahl war nach den verkorksten Prüfungen nicht groß gewesen, aber allein die Vorstellung mit vielen Menschen in einem Raum zu arbeiten, missfiel ihr. Die Stille von Stromweiche A ließ ihr die Option, sich in eigene Gedanken zu flüchten. In der Station existierten vier Stromweichen. Sie kontrollierten den Stromfluss von den Kollektoren und anderen Erzeugern zu den Akkus und letztendlich damit die Abgaben an die Verbraucher. »Schau mal Jürgen«, sprach sie ihren Kollegen an. »Kaum geht seit drei Tagen die Sonne auf, schon ist der Stromfluss signifikant höher. Immer wieder faszinierend.«Ihr Partner Jürgen Schmied brummte ungehalten. Melissa war sich bis eben nicht sicher gewesen, ob er schlief, oder keine Lust auf ein Gespräch hatte. Er hob den Kopf und sah sie vorwurfsvoll an.»Und? Das ist doch jedes Jahr so«, merkte er an.Melissa war sich dieser Tatsache logischerweise bewusst und schnaubte. Jürgen war kein simpler Mensch, das Gleiche galt ebenfalls für ihre Person.»Mensch Grumpy, sei doch nicht immer so.«»Bin ich aber Mel.«Sie rollte mit den Augen und erhob sich. »Ich mache den Rundgang.«»Hast du den nicht vor fünf Minuten gemacht?«Der letzte Rundgang war exakt 7 Minuten her, aber sie war nicht mehr in der Lage, den Drang sich zu bewegen zu unterdrücken. Diese innere Unruhe begleitete sie überall hin und wurde intensiver, wenn sie aufgewühlt war oder die Gedanken sie zu sehr beschäftigten. Zufälligerweise lag der Grund für all ebendiese auf dem Weg, während sie ihre Runde erledigte.Die Stromweiche bestand aus einem kleinen Computerraum, der zur Steuerung diente, und unter diesem lagen die Ebenen mit den Akkus. Der Strom, der am Tag erzeugt wurde, wurde hier gespeichert und in der Nacht abgegeben. Melissa schob sich durch die schmale Tür und stieg dann eine enge Treppe hinab. Sie war aus Stahl gebaut und jede von Mels Schritten hallte durch das Treppenhaus. Der Abstand zwischen Stromkontrollraum und Stromspeichern war groß. Das war offenkundig ein Grund dafür, dass kaum jemand der Akkutechniker den Rundgang bis zu den Akkus vollzog. Melissa aber war anders.Ihre Lehrer bescheinigten ihr eine extrem hohe Intelligenz. Sie verstand die Zusammenhänge deutlich schneller als ihre Mitschüler und ergänzte diese sinnvoll. Schon mit zwölf hatte sie eine Idee, um die Solarpaneele effizienter zu gestalten, und mit vierzehn verblüffte sie die Biologen mit einer neuen Frucht, die zwei Ernten bis zu den heißen Stürmen im Sommer ermöglichte und dabei ungewöhnlich vitaminreich war. Ihre Schwächen lagen an anderer Stelle.Prüfend sah sie durch die Scheiben hindurch auf die Reihen der Akkus. Lange Reigen von Schränken. Starr und leblos. Rotes Licht aus der Notbeleuchtung ließen sie wie schwarze Giganten erscheinen. Flink rutschte sie das Geländer hinab und gab den Code für die Tür zum Akkuraum der Ebene A ein. Zischend öffnete sich die Schiebetür und Melissa schob sich hinein. Sie griff nach einer der Jacken, die am Eingang hingen und zog sie eilig über. Hier unten war es immer kalt, das dauernde Laden und Entladen der Akkus erzeugte Wärme, die man stetig abführte und zum Anwärmen der anderen Stationsteile nutzte. Melissa zog ein Tablet hervor und öffnete eine Tabelle. Sie fügte eine neue Zeile an und trug die Uhrzeit ein. Wenn ihre Vermutung stimmte, würde es ein Beben in der Station geben. Sie glitt zur ersten Reihe der Akkus. Hier stand ein Steuerungscomputer mit einem kleinen Display. Die Werte auf diesem zeigten die Menge des Stromes an, der in ebendiesem Abschnitt gespeichert war. Sie übertrug die Zahlen und wiederholte es dann mit der zweiten und so weiter, bis sie das Ende erreichte. Zufrieden sah sie am Schluss auf die Tabelle und holte tief Luft.Das Programm war eine Eigenentwicklung. Ein leichter Druck auf den Button und es würde die Zahlenreihen auswerten. »Und los«, hauchte sie und schloss die Augen, als sie die passende Stelle auf dem Tablet berührte.Sie tippte ungeduldig mit den Fingernägeln gegen die Blechwand eines Akkus. »Komm schon, komm schon«, bat sie und sah immer wieder prüfend hinauf zur Scheibe. Jürgen war ihr wie erwartet nicht gefolgt. Ein simpler monotoner Ton signalisierte, dass die Berechnung abgeschlossen war.Melissa schloss die Augen. Was würde geschehen, wenn sie Recht hatte. Wenn all ihre Mühen, all ihre Gedanken und Vermutungen sich bewahrheiteten? Das Leben in der Station wäre nicht mehr das gleiche.Sie sah auf das Resultat. Zahlen lügen nicht, und doch gab es Ergebnisse, denen man besser nicht traute. Der erste Verdacht überkam sie vor zwei Monaten. Es war zu Beginn purer Langeweile geschuldet, dass sie die Stände der Akkuladung mit den Werten am Display verglich, dann aber kristallisierte es sich allmählich heraus. Sie sammelte Daten, programmierte eine eigene Auswertung und hielt hiermit ihrer Meinung nach den Beweis in der Hand.Was Jürgen sagen würde?Sie grinste und drückte das Tablet an ihre Brust. Melissa wandte sich ab, eilte aus dem Raum und die Treppe hinauf. Jede zweite Stufe übersprang sie und außer Atem erreichte sie den kleinen Computerraum.»Jürgen!«Er brummte nur ungehalten.»Ich hab etwas!«Sie baute sich vor ihm auf und wartete.Bedächtig hob er den Kopf. »Einen Knall?«»Eine Differenz«, blieb sie locker.»Eine Divergenz in deinem Schädel meinst du wohl«, korrigierte er sie. Melissa wusste, dass er ein Problem mit Frauen hatte. Es war nicht das erste und würde nicht das letzte Mal gewesen sein, dass er sie abfällig behandelte.»Jürgen. Bitte. Schau es dir an!«Sie legte das Tablet vor ihn auf den Tisch.»Warum?«, lehnte er sich zurück und schob das Gerät wieder ein Stück in ihre Richtung. Musste er immer derart stur sein?»Weil ich ohne deine Erfahrung aufgeschmissen bin?«, log sie. Jürgen war ein notwendiges Übel. Er war faul, arbeitete nicht und demnach hatte sie ihn in Wissen und Routine mittlerweile überholt.»Ist dem so?«, grinste er süffisant. »Wundert mich nicht, dass eine Frau der Technik nicht gewachsen ist.«›Du dummer Sack‹, fluchte sie innerlich, lächelte aber oberflächlich breit. »Darum gibt es ja Männer wie dich«, säuselte sie.»Nun gut. Was ist es denn?«, murmelte er und setzte sich auf. Melissa hatte gelernt, wie man mit ihm umging und entsperrte das Display des Tablets.»Schau. Ich habe hier die Werte der Akkus, die wir hier oben sehen und hier sind die, die unten angezeigt werden.«»Und?«Sie rollte mit den Augen. War er so blind?»Sie sind unterschiedlich?«»Und?«, wiederholte Jürgen seine Aussage.Sie entriss ihm das Tablet, änderte die Ansicht und hielt es ihm erneut vor Augen.»Seit Tagesbeginn haben wir wieder Stromzufuhr. Die siehst du hier. Davor gab es keine. Hier ist der Akkustand von vor zwei Wochen, hier die Summe, die verbraucht wurde, wenn ich die Zahlen von hier nehme und hier die Zahlen von der ersten Ebene... die passen nicht.«»Es könnten andere Ebenen beteiligt sein«, mutmaßte Jürgen gelangweilt.»Du meinst, dass es Umverteilungen gab?«»Wie lange machst du den Job schon?«, provozierte er sie. »Du hättest wissen müssen, dass die Akkus automatisch versuchen, den Ladestand aller Schränke und Reihen grob gleich zu halten.«Melissa verzog das Gesicht. Sie wusste es, aber bis eben war sie davon ausgegangen, dass es nur eine Ausnahme war, dass das System aktiv eingriff und normalerweise gleichmäßig der Strom abgegeben wurde.»Ich...«, stotterte sie. »Du hast zu schnell gedacht. Verdammt Mel. Die Software und die Steuerung ist Jahrzehnte alt und sie wurde nur zu einem Zweck geschaffen. Zuverlässigkeit. Da stimmt alles!«Sie fluchte. Waren ihre Mühen umsonst gewesen?Aufgeben war keine Option. Wortlos drehte sie sich um, stellte sich an das Terminal und rief die gewünschten Werte auf. Zahl um Zahl übertrug sie in ihre Applikation und sprang zur Tür.»Was wird das nun Mel?«, knurrte Jürgen.»Bleib sitzen, liegen oder was auch immer. Ich prüfe das jetzt!«Wütend drehte sie sich um und stob aus der Tür hinaus und weiter die Treppe hinab. »Mel...«, rief Jürgen ihr nach, aber sie überhörte sein Rufen willentlich. Ebene um Ebene arbeitete sie ab, übertrug die Werte der Kontrollcomputer auf ihr Tablet. Die Anlage besaß riesige Ausmaße und es war nur eine von Vieren in der gesamten Station. Zumindest sammelten die Computer die Daten einer jeden Reihe Akkus. Sechsundzwanzig Ebenen und alle beinhalteten Sechzehn Gruppen Akkuschränke. Melissa war in ihrem Element. Zahlen – Datenmaterial. Sie erahnte, warum diese Arbeit nie jemanden interessiert hatte. Es war zermürbend. Reihe um Reihe abzuarbeiten und dann zur nächsten Ebene hinabzusteigen. Um eine zügige Auswertung zu bekommen, beschränkte sie sich auf die letzten vierzehn Tage – blieb nur zu hoffen, dass sie Jürgen damit überzeugte. Er war der Leiter der Schicht und nur, wenn er die Meldung verfasste, würde reagiert werden. Skeptisch sah sie auf das Schild der nächsten Ebene: U. »Bald geschafft«, schnaufte sie und ließ die nahe Tür aufgleiten. Es gab keinen Aufzug in dieser Anlage und es graute ihr jetzt schon wieder vor dem Aufstieg. Allmählich gelangte sie an ihre körperlichen Grenzen. Der Drang sich zu bewegen, ebbte ab.Letztendlich erreichte sie die letzte Reihe und lehnte sich erleichtert an einen der Schränke. Sie atmete durch und sah daraufhin auf das Display ihres Tablets. Ein grüner runder Button blinkte auf. Ein Druck und das Programm analysierte die Daten und dann hatte Jürgen keine Wahl und würde ihr Recht geben. Ihr Finger vibrierte vor Spannung, als sie die Stelle berührte und ein Fortschrittsbalken aufpoppte. Die Verarbeitung begann.Melissa nutzte die Zeit und verließ die unterste Ebene. Der Rückweg würde anstrengend. Sie schluckte. Der Blick hinauf durch das Treppenhaus trieb ihr kalte Schauer über den Rücken. »Na los, Mel«, feuerte sie sich an und setzte den Fuß auf den ersten Tritt. Stufe um Stufe, Treppe um Treppe. Gelangte sie in eine neue Etage, hoffte sie jedes Mal inständig, dass die Analyse beendet war – aber der bestätigende Alarmton blieb aus.Als sie Ebene M erreichte, hielt sie die Neugier nicht aus und zog das flache Gerät hervor. Der Balken füllte nicht die Hälfte des Gesamtfortschritts aus. Wenn sie Glück hatte, traf sie kurz vor Schichtende in der Weiche ein. Die Beine schmerzten. Die stetige Belastung forderte ihren Tribut und Melissa stieg die Stufen immer langsamer hinauf. Sie stützte sich auf das Geländer, nahm sich wieder und wieder Pausen. In Ebene F setzte sie sich für einen Augenblick auf den Boden. Ihre Füße schmerzten und sie fror. Der Atem stand und erzeugte mit jedem Ausatmen kleine Wolken, die sich verspielt auflösten. Ihr stetiger Drang sich zu bewegen war einer aufkeimenden allumfassenden Müdigkeit gewichen. Ihre braunen Haare hingen ihr verschwitzt ins Gesicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie die Stromweiche. Außer Atem öffnete sie die Tür und setzte sich auf einen der Stühle.Jürgen sah flüchtig auf. Er verspottete sie mit seinem Blick und ließ ein kurzes fieses Grinsen folgen.»Du bist feucht, du solltest nach Hause gehen, dein Mann wird sich freuen.«»Wie bitte?«Mit einem Schlag war die Müdigkeit fortgespült. Jürgen war ein Arsch, bisher behielt er sich zumindest einen letzten Funken Respekt, aber das hier erreichte ein Niveau, welches eine Reaktion verlangte. Sie starrte ihn an, sprang wieder aus dem Sitz und beugte sich zu ihm hinüber.»Oder muss ich es dir gleich hier besorgen?«, flüsterte er.Melissa reagierte blitzschnell. Sie holte aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Es knallte laut – all ihre Wut lag in dem Schlag. Einen Moment lang kam keine Reaktion. Stille drückte auf den Augenblick und Jürgen wirkte überrascht. Er lehnte sich langsam zurück und faltete die Hände.»Frauen haben in diesem Job nichts zu suchen, sie sehen Gespenster und können nicht mit Zahlen umgehen und außerdem...«, resümierte er süffisant lächelnd. »...habt ihr eure Gefühle nicht im Griff – wie man sieht.«»Du bist ein Arsch, Jürgen. Ein Macho. Ein...« Sie suchte nach dem passendsten Wort. »Ich denke, wir vergessen das heute. Beides. Der Schlag und deine Vermutung, oder muss ich Beschwerde einlegen?«Fassungslos blieb Melissa wie angewurzelt stehen. Meinte er das ernst? Sie hatte nur reagiert und er hatte sie beleidigt! »Die Kameras werden belegen, dass du selbst Schuld bist!«Schief grinsend deutete Jürgen an die Decke.»Ich glaube, die ist defekt«, sprach er und erhob sich. In der Tat fehlte das stetige Blinken der LED, als Zeichen dafür, dass die Kamera aufnahm. »Ich mache nun Feierabend, wir sehen uns ja morgen eh wieder«, sprach er weiter und schob sich an ihr vorbei. Als er ihr nahe genug war, flüsterte er: »Oder willst du dich morgen nicht lieber krank melden?«Melissa schloss die Augen. Sie kämpfte mit sich, wäre am liebsten auf den Kerl losgegangen. Sie ballte die Fäuste, so dass die Knöchel weiß hervortraten, und fand erst wieder zu sich selbst, nachdem Jürgen die Tür ins Schloss gezogen hatte, um die Schicht zu übergeben. »Arschloch!«, rief sie ihm nach, wohlwissend, dass er sie nicht mehr hörte.Es piepte!Bei all dem Ärger hatte sie vergessen, dass die Verarbeitung weiterhin lief. Demotiviert und lustlos griff sie nach dem Tablet und entsperrte es. Sie wischte sich über das Gesicht, Schweiß war in ihre Augen geraten – oder Tränen, aber das würde sie sich niemals eingestehen. Sie schluchzte und blinzelte einige Male, bis sie wieder scharf sah. Erst dann erkannte sie die Zahlen, die ihr Programm als Ergebnis lieferten.Melissa traute ihren Augen nicht. Sie wischte mit dem Unterarm nochmals über das Gesicht und sah erneut auf das Display.Die Differenz war real! Jemand stahl Strom. Die Zahlen offenbarten die fehlende Menge. Ihre Vermutung bewahrheitete sich.Nur wer? Mel grübelte. Der Verbrauch der Station wurde im Steuerungsraum der Weiche gemessen, der Zulauf ebenso. Ihr Magen krampfte sich zusammen.Wer auch immer die Energie stahl, nutzte nicht das Stromnetz der Station. Kam er etwa von außerhalb?

Station 8Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt