Nach zwanzig Minuten fängt es an, Spaß zu machen. Nach zwanzig Minuten fängt mein Kreislauf zu leben an. Ich werde wach, und ich stelle die Musik an. Papas iPad, wie immer ist es nicht geladen, aber der Crosstrainer hat einen USB-Anschluss. "Shitty Pop" wähle ich aus, mit zufälliger Reihenfolge. Ich weiß, die Musikauswahl meines Vaters wird mich zum Lachen bringen. Während der ersten zwanzig Minuten trete ich nur müde in die Pedale, während ich mich an den Griffen festhalte, um nicht im Halbschlaf das Gleichgewicht zu verlieren. Dann nehme ich auch die Arme hinzu, trainiere den Oberkörper. Nicht, dass ich dort gerne Muskeln hätte. Aber ist man erstmal in Gang gekommen, so braucht man auch ein wenig Action.
Der große Vorteil des Crosstrainers: Es sieht mich keiner. Keine gemachten Haare, die Klamotten von gestern. Die Gebrauchsanweisung empfiehlt Turnschuhe, aber who cares. Mein T-Shirt hat noch die Himbeerflecken von gestern. Aber alles, was von dessen Aufschrift ablenkt, hat ohnehin seine Berechtigung. Und meine Teddybärchenunterhose ist auch nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Zuerst hatte ich den Crosstrainer direkt vor den Spiegel gestellt. Aber das war abschreckend. Nicht einmal ich selbst mag mich sehen, wenn ich morgens noch nicht geduscht habe. Ein halbes Jahr stand das Gerät dann ungenutzt vor dem Spiegel. Danach kam ich auf die Idee, es einfach umzudrehen, mit Blickrichtung Fenster. Gewitter sind jetzt meine besten Trainingstage.
"Anotherloverholenyohead" kommt aus den Kopfhörern, und ich frage mich, ob "another lover" meinen Kopf hält, "holdin' your head", oder ob ich ihn brauche, wie ein Loch in meinem Kopf - "a hole in your head". Aber für Liebhaber bin ich ohnehin zu jung. Und überhaupt, können diese Typen nicht deutlicher singen? Wer soll das überhaupt sein, Prince oder so? "I gave my love, I gave my life, I gave my body and mind", das singt er. Es scheint sich nicht ausgezahlt zu haben. Überhaupt stelle ich mir die Frage, ob sich der ganze Aufwand für das Beziehungsleben lohnt. Höre ich die Musik meines Vaters, so habe ich meine Zweifel. Schlechte Stimmung ohne Ende. Typen immer am Rand der Verzweifelung. Und das ganz unabhängig von den Beats, die man zu den Texten hört. Dazu lerne ich also Englisch in der Schule, damit ich die Krisen meines Vaters besser nachvollziehen kann. Er könnte auch ganz einfach auf Deutsch darüber mit mir reden. Aber auf die Idee kommt er wahrscheinlich gar nicht.
Nach dreißig Minuten reicht es mit den Armen. Ich lasse alles los, trete weiter in die Pedale, halte das Gleichgewicht ohne Unterstützung der Arme. Als ich das vor sechs Wochen in meinem Fitnessstudio gemacht habe, hat ein Typ neben mir das nachgemacht. Und das Gleichgewicht verloren. Das Blut aus seiner Nase musste dann einer der Mitarbeiter aufwischen. Das mit dem Gleichgewicht, das erfordert dann doch einen Rest an Konzentration. Das erste, was passierte, war, dass sich das Kabel seines Kopfhörers in einem der Griffe verhedderte, und ihm den Kopfhörer vom Kopf riss. Als er das Problem zu lösen versuchte, das Kabel wieder einzufangen versuchte, traf ihn der Griff des Crosstrainers im Gesicht. Lautes Lachen über den folgenden Abgang war nicht angesagt, aber es fiel mir schon schwer, es zu unterdrücken.
Dabei bin ich eigentlich die letzte, die Typen in der Umgebung den Kopf verlieren lässt. Die Hühnchen mit den Miniröcken, das sind die anderen. Ich habe kein Püppchengesicht, meine Haare sind auch gekämmt nicht glatt und lang, und mein Hintern ist dieses kleine bisschen zu rund und zu dick. Und nichts an meinem Oberkörper gleich das irgendwie aus, wozu auch. Dafür bin ich groß. Größer als die meisten Jungs in meiner Klasse. Und ja, mit Fremden führt das manchmal zu Missverständnissen. Aber es gibt schlimmeres. Altersfreigaben waren jedenfalls nie ein Problem für mich. Ich liebe Horrorfilme.
"Your pretty ladies around the world
Got a weird thing to show you
So tell all the boys and girls
Tell your brother, your sister and your mamma too
we're about to go down"Das kommt jetzt aus dem Kopfhörer, und dafür, dass sich diese Musik uralt anhört, finde ich sie so schlecht nicht. Die Musik passt nicht zu meinem Vater, der Sänger hört sich völlig schwul an. Was OK ist. Mein bester Freund ist schwul. Da macht es dann auch nicht so viel aus, dass er deutlich älter ist. Eberhard macht gerade Abi. Und mein Verhältnis mit Eberhard ist das beste, das enspannteste Verhältnis, dass man sich wünschen kann. Vor allem, wenn die kleinen roten Punkte im Gesicht einem mal wieder mitteilen, dass man in der Pubertät steckt. Und damit der Schrecken nicht nur seiner Eltern sondern auch der gesamten Schule ist. Eberhard sieht das ganz pragmatisch. Er weiß ganz gut, dass er zu einer verfolgten Minderheit gehört. Doch trotz allem ist Angst nicht seine Sache. Er versteckt sich nicht. Wieso sollte ich dann unreine Haut verstecken?
Vierzig Minuten Training sind vorbei. Es spielt eine Band namens Lounge Lizards, der Song heißt Big Heart, und ich verstehe einfach nichts. Wirre Tonfolgen, zum Weglaufen. Selbst mein Vater kann das einfach nicht mögen. Fluchtgedanken sorgen dafür, dass ich wieder die Arme hinzunehme, dass die Kalorienzahl sich schnell nach oben bewegt. Das Nutellabrot ist für heute gerechtfertigt. Die Chips am Abend wohl auch. Obwohl, das mit den Chips und der Cola ist schon richtig eklig. Mein Vater meint, dass das mit den Pickeln ja an der Ernährung liegen würde. Quatsch. Empirisch falsch. Ich habe es probiert. Mindestens drei Tage lang. Und überhaupt, man muss Prioritäten setzen. Laut meinem Vater bin ich ohnehin zu jung für einen Freund. Er findet Eberhard übrigens perfekt. Vor allem, seit er mitbekam, wie Eberhard eines Abends meinen gesamten Vorrat an Trashfood aus der Wohnung trug und direkt in die Mülltonne verfrachtete. Es gibt Dinge, über die kann Eberhard einfach nicht lachen.
"When I had you to myself, I didn't want you around
Those pretty faces always make you stand out in a crowd"Den Song findet denn auch Eberhard geil, auch wenn meint, dass der Sänger ja schon ein Rad ab hätte, so wie auch seine ganze Familie. Der Sänger ist wohl schon tot, wie auch dieser Prince. Dass mein Vater langsam alt wird, das merke ich daran, dass er so oft über tote Musiker spricht. "Die Stones aber leben doch noch", sagt er, wenn ich ihn darauf anspreche. In seiner Sammlung gibt es einen Song, den ich dann doch mag, er heißt "Paint it black". Für Workouts nicht zu gebrauchen. Aber schräg, irgendwie magisch, ein wenig depri, aber gut. Passt zu schlechten Parties in blöden Kellern. In diesen macht der Song echt Hoffnung.
"Pretty faces" sind natürlich Eberhards Lieblingsthema. Das war es schon, als ich ihn kennen lernte. Er war in der Schule mit Jennifer aneinander geraten, die selbsternannte Klassenschönheit, als diese sich mit einer gleichnamigen Kandidatin bei Germany's Next Topfmodell verglich. Jennifer hatte einen Freund in der Zehnten, vor allem aber hatte sie einen Blog. So einen mit wenig Text und vielen Bildern, denn mit dem Schreiben hat sie es eigentlich nicht so. "Die Bilder zeigen eine Tendenz zu Bademoden", war der Kommentar meines Vaters. Eberhard war nicht so freundlich gewesen. "Selbst mein Ausschnitt ist schöner als deiner", das war sein für alle gut hörbarer Kommentar, als sich Jennifer mal wieder produzierte. Ihre Antwort war rustikal: "Schwule Sau". Am folgenden Tag ist die Sache dann etwas eskaliert. Eberhard hatte Jennifers Fotos aus Instagram ausgedruckt, kam in der Pause in unserer Klasse, setzte sich eine blonde Perücke auf, stellte einen Stuhl auf einen Tisch und setzte sich darauf.
"Heute ist wieder Entscheidungstag" begann er. Und zerriss das erste Photo. "Aber nur eine kann Germany's Next Topf Modell werden". Beim Blick auf das nächste Foto verzog er theatralisch sein Gesicht. "Das muss in der nächsten Woche besser werden". Ratsch. "Du musst mehr aus dir herauskommen". Ratsch. "Du musst üben, üben, üben." Ratsch. "Wenn du ganz nach oben willst, musst du die Zähne zusammenbeißen." Ratsch. Dann hielt er inne. "Der Typ ist echt süß. Aber bei Dir will ich nichts mehr schwabblen sehen." Triumphierend hielt er ein Pärchenbild in die Höhe, welches er dann in seine Hosentasche steckte. Mit den restlichen Bildern machte er dann kurzen Prozess. "Täglich grüßt das Murmeltier". Ratsch, ratsch, ratsch. Der Auftritt brachte Eberhard ein halbes Dutzend Sitzungen beim Schulpsychologen ein. Und ein für alle sichtbares blaues Auge am nächsten Tag. Aber vielleicht war es genau das, was ihn vor schlimmeren Konsequenzen bewahrte.
"Dirty babe
You see these shackles, baby - I'm your slave
I'll let you whip me if I misbehave
It's just that no one makes me feel this way"Ich bin bei Minute 50, habe knapp 500 Kalorien weniger im Körper, und das, was aus dem Kopfhörer kommt, ist endlich meine Musik. Auch wenn ich das, was Justin so singt, nicht ernst nehmen kann, finde ich klasse, wie er es singt. Dass mein Vater das in seine Playlist aufnimmt, das überrascht mich schon etwas. Passt nicht zu ihm. Mittlerweile tue ich das, was junge Damen laut Kosmetikindustrie nie tun sollten - ich schwitze. Bis Minute 55 gebe ich nochmal alles. Dann fünf Minuten langsam auslaufen lassen, dann schnell unter die Dusche. Denn viel Zeit habe ich nicht. Es ist schließlich Samstag, und um elf fängt Jazzdance an.
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Beauty in Motion
ChickLitEs läuft nicht viel in Lisas Leben, dafür läuft sie. Lange Kilometer entlang der vielen Seen im Wald, oder auf dem Cross-Trainer von Papa. Sie weiß, dass sie inzwischen wirklich schnell ist, weshalb sie die Langsamkeit der anderen immer mehr nervt...