kapitel 9 - vergangenheit

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Ich bin schon wach, als mein Wecker ein penetrantes Piepsen von sich gibt. Ich liege auf meiner rechten Seite, schalte den Unruhestifter aus und richte mich auf, lehne mich dabei mit meinem Rücken gegen die Wand, an der mein Bett mit dem Kopf steht. Mein Blick fällt auf das kleine Buch neben mir, mit einem Lächeln greife ich danach und lehne es gegen meine angezogenen Oberschenkel, fahre mit meinen Fingerkuppen die gelben Gebrauchsspuren, die das Cover zieren wie die Äste eines Baumes, entlang.
Wieso will ich meine Bücher eigentlich immer so ordentlich und perfekt halten? Wieso will ich alles immer so ordentlich und perfekt halten? Diese Gebrauchsspuren sind nur Narben, die wir beim Lesen hinterlassen haben, weil wir die Worte, die auf den Seiten stehen und sich in unsere Herzen bohren, so gefühlt haben. Und ich habe jedes Wort gefühlt, das Oscar Wilde da hinterlassen hat.
Oscar Wildes Worte sind wie Pancakes mit Heidelbeeren um halb zehn mit einer Extra-Portion Ahornsirup für mein Schriftsteller-Herz.
Ich habe noch bis zwei Uhr gelesen, saß in meinen Decken eingemummelt auf meinem Bett und war so in das Buch vertieft, dass ich nicht einmal von dem Tee getrunken habe, den Esma mir kurz nach meiner letzten Mail an Ry auf mein Zimmer für meine Bauchschmerzen gebracht hat.

Meine Schuluniform nimmt mir meine Kleidungsentscheidung ab, demnach folgt also keine stundenlange Entscheidung, die sich damit befasst, was ich anziehen kann, um Ry heute besonders gut zu gefallen. Also steige ich in meine Strumpfhose, ziehe den dunkelblauen Rock und das weiße Hemd über und lege die vorgebundene Krawatte um. Hoch lebe meine spießige Privatschule für reiche Kinder noch reicherer Eltern, die zu früh, zu viel Geld hatten und bis heute nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.
Allerdings gebe ich mir heute etwas mehr Mühe mit meinen Haaren, befreie sie aus dem Dutt und fahre mir mit nassen Fingern ein wenig durch die Haare, sodass sie sich nicht mehr wie ein blondes Nest auf meinem Kopf türmen. Wer Locken hat, wird verstehen, wieso ich sie nicht kämme. Ich zupfe ein paar Strähnen in die richtige Richtung, lege etwas Lipgloss auf und verschwinde lächelnd aus dem Bad.
Jetzt weiß ich, was Leute meinen, wenn sie sagen, sie sind beflügelt.
Ich bin nicht nur beflügelt, ich bin high.

Ich schwebe die Treppe runter, überspringe die letzten Stufen und will gerade nach Voy rufen, damit ich weiß, wie lange er noch braucht, bis er losfahren möchte, als meine Mom den Empfangsbereich betritt.
„Was machst du denn schon hier?", ich greife nach meiner Schultasche und ziehe beide Brauen hoch. Ich weiß, dass das nicht die Reaktion sein sollte, die eine Mutter hören möchte, wenn sie nach einer Woche Abwesenheit wieder Zuhause ist. Sie legt ihre Stirn in Falten, zwingt sich aber noch dazu zu lächeln, was merkwürdig deplatziert in ihrem Gesicht scheint. Meine Mom lächelt nur, wenn sie einen Check erhält, oder ihre Reisetasche packt.
„Ich bin früher nach Hause gekommen. Die Fruchtblase der Frau des Fotografens ist geplatzt und das Shooting musste abgebrochen werden.", sie schnippt einen Fussel von ihrem weißen Bleistiftrock, der ihre braunen Beine betont und glättet in der gleichen Handbewegung eine Falte auf ihrer hellblauen Bluse, „Ich muss nächste Woche noch einmal nach Vegas.", sagt sie dann, als ich nichts sage, ihren Blick immer noch auf ihr Dekolleté gerichtet.
„Also bleibst du jetzt ein paar Tage Zuhause?", die kleine Kette, die zwischen ihren Schlüsselbeinen hängt, glitzert im Licht des Kronenleuchters über uns. Früher, als ich und Voy noch klein waren, trug sie immer den kleinen Schwan-Anhänger, den mein Vater ihr an ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Manchmal ertappe ich mich bei der Frage, wo sie ihn aufbewahrt – ob sie ihn überhaupt irgendwo noch hat oder sie ihn längst weggeschmissen hat, wie mein Vater es damals mit uns gemacht hat. Es würde mir etwas mehr Zuversicht geben, wenn sie den Anhänger heimlich aufbewahrt, dann wüsste ich wenigstens, dass diese erkaltete, eisige Herzogin doch noch irgendwie Gefühle hat.
„Ja, für ein paar Tage bin ich hier.", sie sieht zu mir, sieht mich zum ersten Mal richtig an und nicht durch mich hindurch, als wäre ich aus Glas, „Ich möchte euch beiden gerne jemanden vorstellen, ich dachte mir, Esma zaubert uns heute Abend etwas leckeres und wir essen alle zusammen."
Uns jemanden vorstellen? Ich muss mir ein, Ehemann Numero vier?' verkneifen und nicke.
„Klar, hast du Voy schon Bescheid gegeben?"
„Nein, ich habe ihn heute noch nicht gesehen."
„Kein Wunder, Brooks hat bei ihm übernachtet.", ich zucke mit den Schultern und schlüpfe in meine Schuhe, damit ich etwas zu tun habe und nicht einfach nur so dastehe und nach ihrer Aufmerksamkeit lechze.
„Brooks?"
„Voy hat eine Freundin, Mom. Schon seit zwei Monaten, sie war letztens bei uns, als du mit Anthony im Wohnzimmer warst.", erinnere ich sie und halte in meinen Bewegungen inne.
„Er hat endlich einmal jemanden gefunden, der seine Zahnlücke süß findet? Ich dachte, das wäre unmöglich.", es ist unausweichlich, dass man den bissigen Ton in ihrer Stimme nicht hört. Aber ich kenne meine Mutter, sie reagiert immer sofort defensiv, wenn man sie mit ihrer konstanten Abwesenheit konfrontiert. Wage es bloß nicht, die Herzogin zu kritisieren.
„Vermutlich wird sie heute auch mit uns essen, aber Esma ist vermutlich schon darauf vorbereitet.", ich gehe auf ihre Erwiderung nicht ein und schlüpfe in meinen anderen Schuh. Ich kann den Blick der braunen Augen meiner Mutter deutlich in meinem Rücken spüren.
„Möchtest du nicht auch jemanden einladen, damit du nicht allein bist? Eine Freundin? Cara vielleicht?", fragt sie, geht damit verbal wieder einen Schritt auf mich zu, was mir kurz die Genugtuung verschafft, zu wissen, dass nun sie nun den Kontakt sucht.
„Eigentlich heißt sie Keira, aber... Weißt du, Cara und Keira, das klingt fast gleich.", ich schüttle den Kopf und ziehe einen Mundwinkel hoch.
Die kleine Denkfalte zwischen ihren Augenbrauen erscheint wieder und kurz kann ich ihren Mundwinkel beim Zucken beobachten. Ein rares Bild, Grace Jones, eine Spezies, die höchst selten mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht aufzufinden ist und wenn sie lächelt, dann ist es ratsam, um sein Leben zu laufen.
„Überlege es dir.", sie nickt, was so viel für mich heißt, dass ich jetzt entlassen bin und dreht sich um.
Ich will gerade Voys Namen die Treppe hochschreien, als ich sie noch etwas sagen hören kann, „Deine Haare sehen heute hübsch aus."

the girl made of shattered wordsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt