I. Junge Adler auf der Flucht

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Endlich drangen die Strahlen der Sonnen wärmend durch das Laubdach und vertrieben den letzten Rest der morgendlichen Feuchtigkeit aus der Luft. Der Duft von braunem Waldboden, nach Moos und Harz, lag über allem. Mit hohem Zirpen flatterte eine Blaumeise durchs Geäst und veranstalteten eine wilde Jagd auf Insekten, die im Sonnenlicht auf und ab tanzten. 
Haganicus beobachtete, wie sich Titus weit über den Hals der rotbraunen Stute vorbeugte, um durch das überhängende Dickicht des Schwarzen Holunders zu spähen, welcher den Waldrand säumte. An seiner linken Seite trug er das rostige Beuteschwert, welches sie in dem Hain gefunden hatten.
Hinter ihnen erklang das ferne Klopfen eines Spechtes aus den Tiefen des Waldes.
Anspannung verdunkelte Titus breites Gesicht. Im Gegenlicht bemerkte Haganicus zum ersten Mal den feinen Flaum von Bartwuchs auf dessen Oberlippe. Dabei war Titus nur ein Jahr älter als er.
Vor ihnen senkte sich Weideland in ein flaches Tal, durch welches eine Straße verlief. Eine Straße welche diese Bezeichnung auch verdient. Anders als die elenden Viehpfade, denen sie bisher begegnet waren. 
Da knuffte ihn Lucius, der vor ihm im Sattel saß, mit dem Ellenbogen in die Rippen. „Rück ein bisschen zurück", klagte der kleinere Junge leise. „Ich klemm mir sonst meinen Hu-hah ein."
Haganicus blickte auf Lucius Kopf hinab. Seine feinen schwarzen Locken hatte es zu wilden Büscheln zerlegt. Er rutschte ein Stück nach hinten, um Platz zu machen. Mit dem linken Arm versuchte er, dem kleineren Jungen Halt im Sattel zu geben, während er gleichzeitig mit dieser Hand auch noch die Zügel führte. Er war kein besonders guter Reiter. Nur ein paar mal hatte er bisher  Gelegenheit bekommen auf einem Pferd zu reiten. Und dann war da noch diese verfluchte Adlerstandarte. Wer musste das blöde Ding tragen? Ja klar, er, Haganicus. Er hielt die Standarte mit der rechten Hand fest. Zum Glück trug der Wallach, auf dem er und Lucius saßen, einen alten Militärsattel mit entsprechenden Befestigungsmöglichkeiten, wo man die Standarte einhängen konnte. Der Dunkelbraune war ein großes, plumpes Pferd und musste zwei Jungen und die Standarte tragen. Während die knochige rotbraune Stute nur Titus auf ihrem Rücken hatte, der zudem ein meisterhafter Reiter war.
Ehre hin oder her, ehe er riskierte, dass er oder Lucius aus dem Sattel stürzten, wäre es besser, sich der Standarte zu entledigen. Lucius war der Sohn eines Tribuns. Sollte er nicht ihn beschützen, anstatt ein Stück Metall in Adlergestalt, an der Spitze eines Holzstabes?
Natürlich wusste er um die Bedeutung des Legionsadlers. Also betete er inständig, dass ihm eine solche Entscheidung heute erspart bliebe. Ihm war klar, wenn sie mit dem wiedergefundenen Adler ins Legionslager zurückkehrten, dann würden sie als Helden gefeiert werden. Andererseits, wenn sie auf der Flucht die Adlerstandarte dem Feind preisgaben ... es wäre eine ungeheuerliche Schmach. Dass alle ihn dafür verantwortlich machen würden, daran bestand dann kein Zweifel. Die Schande würde auf ewig an ihm hängen bleiben. Vielleicht würde ihm sogar der Beitritt zur Legion für immer verwehrt bleiben?
„Meinst Du, dass wir sie jetzt abgehängt haben?", fragte Lucius leise, und ließ die schwarze Mähne des Pferdes durch seine gespreizten Finger gleiten. „Jetzt wo wir die Pferde haben sind wir viel schneller als zu Fuß unterwegs, nicht wahr?"
Haganicus zögerte, ehe er antwortete. „Ich denke schon". Er warf einen Blick über die Schulter und ließ seine Augen durch das grün und braun des Unterholz wandern. Den Hang hinauf wurden die dunklen Buchenstämme von knorrigen Eichen abgelöst. Bis auf das bewegte Sonnenlicht, welches durch die Baumkronen flirrte, war alles still. Der Wald schwieg. Haganicus Faust schloss sich fester um die Zügel. Den Vorsprung, den sie vor der Bande Stammeskriegern gehabt hatten, war in den letzten Tagen bedenklich zusammengeschmolzen. Nur weil er es verstand sich wie ein Jäger durch diese Wälder zu bewegen, war es ihnen überhaupt gelungen, so lange den Haeduern zu entgehen. Er hatte sie auf ihrer Flucht angeführt.
Da rissen ihn Titus nächste Worte aus seinen Gedanken.
„Der Weg zur Straße ist frei. Weit und breit niemand zu sehen. Sobald wir aus dem Wald heraus sind und die letzte Deckung hinter uns haben, gibt es kein Halten mehr. Bis zur Straße runter und dann geht's im gestreckten Galopp bis zur Garnison. Verstanden?" Titus blickte die zwei Jüngeren scharf an.
Haganicus rutschte unbehaglich im Sattel herum. Bis zum Mittag würden sie durch offenes Feindesland reiten! Sein Instinkt warnte ihn davor, den Wald jetzt schon zu verlassen. Auch wenn sie im Wald langsamer vorankamen, fühlte er sich dort ihren Häschern überlegen. Doch Titus hatte klar gemacht, wer hier das sagen hatte. Er war anderer Meinung und ungeduldig. Dort unten war die Straße. Er glaubte, auf den gestohlenen Pferden könnten sie ihre Verfolger auch im offenen Gelände abschütteln und das römische Lager in kürzerer Zeit erreichen, um Rettung für die eingeschlossenen Kohorte der Rapax zu holen. Titus hatte hier das Sagen, weil er der Älteste war und ... ja klar, weil sein Vater Senator war.
„Verstanden?", wiederholte Titus barsch.
„Jawohl, Herr", murmelte Haganicus leise. „Ohne Halt, im gestreckten Galopp bis zur Garnison. Verstanden."
Lucius nickte verzagt.
Haganicus beugte sich über ihn. „Halt dich mit den Schenkeln gut unter den Sattelhörnern fest, Lucius. Wir schaffen das", flüsterte Haganicus dem Zehnjährigen Mut zu.
Lucius nickte erneut.
„Also dann, auf mein Kommando", befahl Titus und hob bedeutungsvoll das erbeutete Schwert in die Höhe.
Auch die Pferde spürten, dass es gleich losging, hoben die Köpfe und zuckten nervös mit den Ohren.
„Rätsch! Rätsch!", stieß hinter ihnen im Wald ein Eichelhäher seinen rauen Ruf aus und Haganicus Kopf wirbelte herum. Im Sonnenlicht sah er die rosa und blauen Federn der Schwingen blitzen, die im wilden Flug durch die Baumwipfel davon eilten. Doch da brüllte Titus schon „Los...!", als befehlige er eine ganze Armee, riss den Schwertarm nach unten und zeigte mit der Klingenspitze auf die Straße zur Garnison, die sie unbedingt erreichen mussten.
Gemeinsam brachen sie aus der Deckung hervor und jagten den Hang hinab.


- Fortsetzung folgt –

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