VIII Viehdieb

75 7 4
                                    

Der Vorhang wurde noch ein Stück weiter aufgezogen und Lucius steckte seinen Kopf in die Kammer. Seinen Augen hielt er fest auf Hortensius geheftet. Haganicus schaute rasch zu seinem Vater hinüber, doch der schlummerte friedlich in der Ecke.
„Was machst du hier, Lucius?", flüsterte er.
Lucius grinste. Lautlos schlüpfte er herein.
Sein Vater schnarchte weiter vor sich hin.
Lucius setzte sich auf der anderen Seite des Bettes auf einen Schemel. „Wie geht es dir?", fragte er flüsternd und ließ einen grauen Sack von seiner Schulter auf den Boden gleiten. „Wann kommst du endlich hier raus?".
„Ich hätte eigentlich heute nach Hause gehen dürfen", seufzte Haganicus. Weil er sich gestern bei seinem Sturz die Wunde aufgerissen hatte, wurde er nun damit bestraft länger im Lazarett bleiben zu müssen. „Mein Bein kann genauso gut zu Hause heilen."
Lucius nickte verständnisvoll. „Du, Hagi, wir...", begann er. Ein lauter Schnarcher von Hortensius unterbrach ihn.
„Nenn mich nicht so", zischte Haganicus.
„Wir müssen unbedingt wieder so ein Grubenhuhn machen", flüsterte Lucius.
„Häh...?"
„Das war soo was von lecker."
„Oh Mann...", seufzte Haganicus. Auf ihrer Flucht durch die Wälder hatten sie ein Huhn gestohlen, als sie an einem Weiler vorbei kamen. Es war ein prächtiger, großer Vogel gewesen, der sich ein wenig zu nahe an den Waldrand gewagt hatte. Sie hatten seit Tagen nichts mehr richtiges zu Essen gehabt. Also hatte Haganicus nicht lange gezögert und die Gelegenheit - beziehungsweise das Federvieh - beim Schopf gepackt.
In seiner Aufregung würgte Haganicus dem Tier ungeschickt an der Gurgel herum, bis Titus ihm das Huhn abnahm. Titus war kräftig gebaut und Lucius sah mit riesengroßen Augen zu, wie er dem Huhn mit einer einzigen, blitzschnellen Bewegung das Genick brach. Dann war er mit dem noch immer zuckenden Vieh unter dem Arm losgerast. Haganicus und Lucius hinter ihm her. Eine Ewigkeit rannten sie durch den Wald, ohne anzuhalten, weil sie wahnsinnige Angst hatten geschnappt zu werden. Die Bauern erschlugen Viehdiebe, ohne mit der Wimper zu zucken. Erst bei Einbruch der Dämmerung stürzten sie halb bewusstlos zu Boden. Anschließend hatte er Lucius und Titus gezeigt, wie man ein Huhn über Nacht in einer Erdgrube garte. Am Morgen gruben sie es aus und fielen wie die Wilden darüber her. Nie war ein Kapaun schneller in den Mägen dreier Jungen verschwunden wie dieser. Sie waren so ausgehungert gewesen, sie hatten sogar sämtliche knorpeligen Stücke von den Knochen genagt. Auch Titus und Lucius waren begeistert gewesen, von der Methode ein Huhn im Erdloch zu garen, und hatten geschworen, nie zuvor in ihrem Leben saftigeres und zarteres Hühnerfleisch gekostet zu haben.
Nun saß Lucius neben ihm, blickte ihn an und nickte übertrieben bedeutungsvoll.
Plötzlich bemerkte er, wie sich der graue Sack, der vor Lucius Füssen lag, bewegte. Überrascht beugte er sich vor und schaute nach unten. Ein leises Gurren erklang. Langsam hob er den Kopf und starrte den kleineren Jungen mit offenem Mund an.
Lucius winkte ihm mit den Augenbrauen zu und lehnte sich zu ihm hinüber. „Ich habe uns schon mal ein Huhn organisiert", flüsterte er ihm verschwörerisch zu. „Pass auf, Hagi, ich habe Informationen aus ganz zuverlässiger Quelle, dass du aus dem Lazarett nach ...", er unterbrach sich mitten im Satz.
In die entstandene Stille hinein ertönte wieder ein leises Gackern.
Dann wurde es Haganicus klar. Es war die Stille. Lucius starrte an ihm vorbei, in die Ecke hinter ihm. Kein Schnarchen unterbrach die Stille.
Vorsichtig drehte sich Haganicus um. Sein Vater saß noch immer mit einer Schulter an die Wand gelehnt in der Ecke, die Arme vor der Brust verschränkt und starrte sie beide mit harten, prüfenden Augen an. „Paps...", rief er überrascht.
„Guten Tag, Zenturio Hortensius. Wie geht es euch", fragte Lucius geschmeidig und lächelte auf seine liebenswürdige Art.
„Ah, der junge Herr Lucius", sagte sein Vater, richtete sich gerade und setzte sein am wenigsten bedrohliches Lächeln auf. „Besucht ihr meinen Tunichtgut wieder einmal?".
„Ja gewiss. Haganicus ist doch mein Kumpel".
"Ach wie nett,...".
Auf dem Gang erklangen plötzlich energische Schritte, die sich näherten. „Lucius?", rief eine Stimme vor dem Zimmer.
Lucius spitze kurz die Lippen und zog die Augenbrauen zusammen, als er sich zur Tür umdrehte. „Papa...?", rief er.
Lautes Klopfen am Türrahmen.
„Herein!", sagte Hortensius steif.
Der Vorhang wurde beiseite gezogen.
Lucius machte eine hastige Bewegung mit dem Fuß und beförderte den Sack unter das Bett.
Im Eingang stand Tribun Cotta, ein hochgewachsener, schlanker Mann mittleren Alters, mit einem harten Gesicht, das von etlichen Narben durchzogen war.
„Ah, Tribun Cotta", sagte sein Vater gedehnt. „Ist es schon so weit?".
„Nein, noch nicht, Herr", sagte der Tribun höflich. „Bitte bleibt sitzen. Ich bin nur gekommen, weil ...", er deutet mit der Finger auf Lucius. „Ich muss dringend mit meinem Sohn ein Wörtchen wechseln." Er warf seinem Sohn einen strengen Blick zu. „Draussen auf dem Gang", sagte er zu ihm und deutete mit einer leichten Kopfbewegung über die Schulter.
Lucius zog ein wenig den Kopf ein. Er warf Haganicus einen Blick zu. Der zuckte nur ratlos mit der Schulter. Dann stand Lucius auf und folgt seinem Vater nach draußen. Hinter ihm wurde der Vorhang schwungvoll zugeworfen.
Haganicus starrte den Filzvorhang an, dessen schweren Falten noch immer hin und her schaukelten. Was hatte Lucius gemeint mit „Informationen aus ganz zuverlässiger Quelle" und auf was wartete sein Vater als er Tribun Cotta fragte, ob es „schon so weit sei"?
Er hörte die Stimme des Tribun, draußen auf dem Gang. Es war zu leise, um zu verstehen was gesagt wurde.
Plötzlich war da ein Geräusch unter seinem Bett. Als er sich zu seinem Vater umwand, blickte er auf dessen Hinterkopf mit dem weisen Haarkranz hinab. Sein Vater hatte sich vorgebeugt und fuhrwerkte mit seinem Stock unter dem Bett herum. Als er sich aufrichtete, hielt er den Sack in der Hand, den Lucius hereingebracht hatte. Es war ein alter Getreidesack, aus grobgewebten Tuch.
Draussen auf dem Gang erklang Lucius gedämpfte Stimme, "Ehrlich, Papa, ich habe damit nichts zu tun ...".
Einen langen Augenblick bedachte Hortensius seinen Sohn mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. Dann packte er den Sack mit beiden Händen, zog ihn auf und blickte hinein.

Fortsetzung folgt ...

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 26, 2020 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Die Jungen AdlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt