VII Haganicus und Lucius

64 6 8
                                    


Sehnsüchtig blickte Haganicus zu den Krücken hinüber, die neben der Tür in der Ecke standen. Außer Reichweite für ihn. 

Gestern Vormittag kam Lucius zu Besuch. Er  war aus dem Bett geklettert, hatte sich die Krücken geschnappt, die er erst tags zuvor bekommen hatte, und sie waren auf den Innenhof hinaus gegangen. Er war froh, endlich mal aus der düsteren Kammer heraus zu sein. Lucius hatte geredet und geredet ... über all die Abenteuer, die sie unternehmen würden, sobald er aus dem Lazarett heraus wäre ... über den alten Zossen, den sie geritten hatten und den er pompös Balios getauft hatte. Nach einem der beiden Kriegsrosse des unsterblichen Achilleus.

„Ausgerechnet Balios", brummte Haganicus.

„Wieso, das passt doch prächtig", hatte Lucius gesagt. „Balios heißt der Geschenkte."

„Mensch Lucius, das heißt nicht der Geschenkte", protestierte Haganicus. „Das ist griechisch und heißt der Gescheckte. Und wo bitte ist der Gaul gescheckt?". Er rollte mit den Augen.

„Bist du dir sicher?", rief Lucius.

„Ja. Ich kann nämlich Griechisch". Und darauf war er jetzt gerade ziemlich stolz.

Er hatte eine Schule besucht, wo er mit anderen Kindern die Grundlagen von Lesen und Schreiben gelernt hatte, hauptsächlich in dem alle zusammen im Chor den Text lasen oder nachsprachen, was der Lehrer vorsprach. Rechnen war dann schon kniffeliger gewesen. Nach dem einen Jahr in der Schule hatte ihm sein Vater alles weitere beigebracht. Und da bekam er sogar noch mehr Prügel, als bei dem alten Lehrer in der Schule. Sein Vater war nun mal der Meinung, Züchtigungen seien unabdingbar für den Lernerfolg. Besonders Schläge auf den Hinterkopf, da sie den Blutfluss in den Kopf stimulierten. Haganicus hatte das nie besonders hilfreich empfunden. Er wusste aber auch, dass sein Vater schon Männer zu Tode geprügelt hatte. Er war sich also im klaren, die Schläge die er erhalten hatte, waren geradezu zärtlich gewesen.

Ein Junge wie Lucius dagegen wurde von seinem eigenen Hauslehrer erzogen, bei dem er auch so Sachen wie Literatur, Geschichte, Philosophie und Rhetorik lernte.

Es verschaffte ihm also ein wenig Genugtuung, dass er besser Griechisch beherrschte als der Sohn des Tribuns. Wenn auch nur für einen kurzen Moment. Denn Lucius war eigentlich schwer in Ordnung und gar nicht arrogant.

Lucius kratzte sich am Hinterkopf. „Echt? Der Gescheckte?".

„Echt." Er blickte auf den kleineren Jungen hinab. „Mein Vater stammt aus Massilia", erklärte er.

Lucius öffnete den Mund zu einem stummen „Aha". Dann sagte er, „Massilia ist eine griechische Kolonie."

„Ja ... Oder war es jedenfalls mal." Er packte die Krücken fester. 

"Warst du schon mal in Massilia?"

"Nein. Aber mein Vater hat mir Griechisch beigebracht." Seine Hände waren plötzlich schweißnass und rutschten am Griff ab. „Lass uns zurück ins Zimmer gehen". Er machte eine Kopfbewegung über den Innenhof.

„Jetzt schon?"

„Ja", sagte er tonlos. Ihm war plötzlich ganz flau und seine Knie fühlten sich so komisch weich an.

Auf dem Rückweg zur Kammer blieb sein einer Gehstock an einer Unebenheit am Boden hängen. Als er einen hastigen Schritt vorwärts machte, um sich zu fangen, durchzuckte ein scharfer Schmerz sein Bein und er schlug der Länge nach hin. Lucius schrie erschrocken auf. Schritte kamen den Gang hinab gerannt und er wurde ins Zimmer getragen. Seine Wunde blutete wieder. Beim Sturz war die Narbe aufgerissen. Der Arzt sagte, es sei nicht allzu schlimm. Es tat aber trotzdem höllisch weh. Als sein Vater später davon erfuhr, gab es ein riesen Donnerwetter. Von wegen Ungehorsam, weil er das Zimmer ohne Erlaubnis verlassen hatte.

So saß Haganicus nun auf seinem Bett und seufzte. Er blickte nach links, wo sein Vater, die Arme vor der Brust verschränkt, auf dem Stuhl in der Ecke saß. Sein Kopf war nach hinten gerollt, gegen die Wand und er schnarchte aus dem offenen Mund, unterbrochen von leisen Schnalzlauten.

Er wunderte sich über die Rüstung, die sein Vater heute trug. Sie war aus Leder gefertigt - bot also im Kampf nicht den gleichen Schutz wie ein Kettenhemd oder Rüstungen aus Metal - aber sie war besonders leicht und bequem zu tragen. Ein teurer, in aufwendiger Arbeit verzierter Lederharnisch, der hauptsächlich Repräsentationszwecken diente.

Wofür hatte sich sein Vater so vornehm heraus geputzt?

Haganicus zupfte an seiner Tunika. Sie war neu und aus besonders fein gesponnenem, grünen Wolltuch. Er hatte sie angezogen bekommen, nachdem er die Demütigung erdulden musste, gebadet zu werden. Ein Pfleger war am späten Morgen mit einer Schüssel eiskaltem Wasser, Tüchern und frischer Kleidung aufgetaucht. Haganicus hatte ihn angefaucht und gesagt, dass er sich allein waschen könne.

„Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit", war die barsche Antwort, als er ihn packte. Der Kerl hatte Hände aus Eisen.

Irgendwie hegte er doch noch die Hoffnung, heute nach Hause zu dürfen. Nach seinem Sturz gestern war dies vorläufig auf unbestimmte Zeit verschoben worden.

Er hielt inne. Er sah einen Finger, der sich um den Rand des schweren Filzvorhang hakte, der den Eingang verdeckte, und diesen ganz sachte ein winziges Stück beiseite zog. Ein Auge spähte in die Kammer hinein und wanderte von ihm, zu seinem Vater in der Ecke.

„Lucius ...", flüsterte Haganicus.

Die Jungen AdlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt