Kapitel 1

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22. August
Es war fast zwei Monate nach meinem Schulabschluss. Draußen neigte sich der Sommer dem Ende zu, und die Parks und Cafés der Stadt quollen über vor gut gelaunten Touristen und Eis essenden Kindern, die ihre letzten Ferientage genossen. Braun gebrannte Menschen räkelten sich auf den Liegen der Swimmingpools, ihre strassbesetzten Bikinis und aufgehellten Zähne strahlten mit der Sonne um die Wette. Dort, wo ich mich allerdings befand – in einem Behandlungsraum im St. Jones Hospital –, leuchtete rein gar nichts, außer vielleicht das Kalkweiß der Wände, die sich hinter, vor und neben mir auftürmten.
Meine Mutter, die scheinbar eingenickt war, hatte eine schlimmere Fahne als Amy Winehouse zu ihren besten Zeiten, und ich konnte wegen der langen Sitzerei meinen Po nicht mehr spüren. Konnte Pofleisch abfallen? Es fühlte sich jedenfalls so an …
Stöhnend rutschte ich auf dem Polster hin und her und gab ihr dabei einen nicht ganz unbeabsichtigten Hieb mit dem Ellenbogen. Sie erwachte aus ihrem Koma und setzte sich kerzengerade im Stuhl auf. Ihr braunes Haar war an einer Seite platt gedrückt, und an ihrem Mundwinkel konnte ich einen glänzenden Spuckefaden erkennen. Mir wurde beim Anblick meiner eigenen Mutter tatsächlich kotzübel.
»Du sabberst«, bemerkte ich und zog eine angewiderte Miene.
»Bitte was?«, lallte sie.
»DIR LÄUFT SPUCKE AUS DEM MUND!«
»Ah.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.
Ich rümpfte die Nase. Der Geruch, den sie verströmte – eine Mischung aus abgestandenem Bier und Schweiß –, ließ unweigerlich das Bild einer Bahnhofsunterführung vor meinem inneren Auge entstehen. Plötzlich wurden meine gehässigen Gedanken aber unterbrochen, als ein unerschütterlicher Hustenreiz meinen ganzen Körper erbeben ließ. Vor Schmerzen presste ich die Hand gegen meine Kehle.
Als ob man sie gerufen hätte, stolzierte in diesem Moment eine große, schlanke und hochstirnige Ärztin in das Behandlungszimmer. Hätte ich gewusst, dass ich halb verrecken musste, damit sie endlich auftauchte, hätte ich mir die ganze Warterei sparen können.
Die grimmige Ärztin warf mir einen eisigen Blick zu, der zu sagen schien: »Wenn du schon meine Luft atmest, schleudere nicht auch noch deine Bakterien hier herum.« Während ich mich bemühte, meine ächzende Lunge wieder halbwegs unter Kontrolle zu bekommen, musterte sie mich abschätzig. Dann zückte sie das Stethoskop, das ihr um den Hals hing, und ich zog mir automatisch das T-Shirt über den Kopf, damit sie mir den Brustkorb abhören konnte. Rasselnd atmete ich immer wieder ein und aus, dabei warf ich einen verstohlenen Blick auf das Schildchen, das an ihrem Kittel hing. »Dr. Diebel«, stand dort in krakeliger Schrift.
Arrogante Schlange, dachte ich und fühlte ihre kalten, groben Finger auf meiner Haut.

Alles hatte vor ein paar Wochen begonnen, wenige Tage nach meiner Abschlussfeier. Zunächst war es nur eine harmlose Erkältung gewesen, die sich dann jedoch erschreckend rasant in heftige Schmerzen in meiner Brust verwandelt hatte. Bisher hatte mein Motto immer gelautet: »Es gibt nichts, was sich nicht mit Schnaps und Schmerztabletten lösen lässt, außer vielleicht Herpes, denn den Scheiß wird man nie wieder los.« Doch mein Zustand wurde trotz reichlich Alkohol einfach nicht besser. Als ich dann auch noch Blut zu husten begann, hatte ich keine andere Wahl mehr, als eine Klinik aufzusuchen.

»Streck den Arm aus!«, befahl Doktor Diebel. Menschen wie sie waren einer der Gründe dafür, warum ich es hasste, zum Arzt zu gehen. Ihr Ton ließ vermuten, dass sie kein Nein gelten lassen würde. Die Augen zu Schlitzen verengt, funkelte sie mich düster an.
»Natürlich, Feldwebel Diebel!« Mit der rechten Hand salutierte ich scherzhaft vor ihr, wofür ich einen bitterbösen Blick kassierte. Schließlich reichte ich ihr dann doch meinen Arm, den sie grob umfasste, um mir eine wirklich anormal große Spritze in die weiche Stelle über meiner Armbeuge zu jagen. Mit einem kurzen, aber stechenden Schmerz durchdrang die Nadelspitze meine Haut, und sofort schoss das Blut in den Behälter.
Die dicke tiefrote Brühe schwappte in dem Gefäß hin und her, während die Ärztin nach getaner Arbeit die restlichen Utensilien in einer Schublade verstaute. Ich betrachtete die Flüssigkeit fasziniert, auch wenn sie mich unweigerlich an Dinge erinnerte, die ich schon lange aus meinem Kopf verbannt hatte.
Mit schnellen geübten Fingern stellte mir Doktor Diebel eine Überweisung an den weiterbehandelnden Arzt aus und reichte sie mir. »Du gehst jetzt in den dritten Stock, dort werden Röntgenaufnahmen von deiner Lunge gemacht«, sagte sie und würdigte mich keines weiteren Blickes mehr. Sie drehte sich einfach um, und das schien ihr Signal für »Verzieht euch aus meinem Behandlungszimmer, aber dalli!« zu sein.
Ich konnte förmlich hören, wie mir der Geduldsfaden riss.
»Oh, natürlich«, flötete ich mit zuckersüßer Stimme, »entschuldigen Sie, dass ich Ihre kostbare Zeit so lange in Anspruch genommen habe.« Dann ergriff ich die Hand meiner Mutter und zerrte sie hinter mir her auf die Tür zu. Doktor Diebels Stimme ließ mich jedoch beim Herunterdrücken der Klinke innehalten.
»Meine Güte, was sind Sie nur für ein armes Ding«, zischelte sie.
Als ich mich umdrehte, fixierten ihre blauen Augen mich und meine Mutter, die nun wieder klarer zu werden schien. Ich straffte meine Schultern und sah die Ärztin ruhig an.
»Entschuldigen Sie«, begann ich sanft, »ich glaube, das habe ich nicht ganz verstanden.«
Sie hob geringschätzig eine ihrer Augenbrauen.
»Finden Sie nicht, dass Sie sich für Ihr Alter ziemlich unpassend verhalten?«
»Finden Sie nicht, dass Sie für jemanden, der so viel mit Menschen zu tun hat, ziemlich wenig Einfühlungsvermögen besitzen?«, hielt ich stand und schenkte ihr ein übertrieben warmes Lächeln. »Aber das ist schon in Ordnung. Sie sollten nur wissen, dass ich immer und absolut unpassend bin. Auf – Gott behüte mich – Nimmerwiedersehen!«
Dann ließ ich die angemessen dumm aus der Wäsche guckende Doktor Diebel zurück, machte auf dem Absatz kehrt und schlug die Tür hinter mir zu. Meine Mutter, die mir aus dem Behandlungsraum hinterhereilte, ließ einen empörten Japser hören.
»Was ist nur in dich gefahren, Jesslyn?«, rief sie, nun schon viel weniger lallend.
Doch ich hielt nicht an, sondern schlenderte gelassen und mit einem triumphierenden Grinsen auf den Lippen den Flur entlang in Richtung der Aufzüge.

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