Kapitel 2

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Die Adresse führte mich geradewegs zu irgendeinem schicken Restaurant, von dem ich zwar schon viel gehört hatte, aber selbst noch nie darin war. Sie zelebrieren also irgendwas. Eigentlich wollte ich John bei sich zu Hause aufsuchen, aber ein öffentlicher Ort war mir im Anbetracht dessen, dass ich für ihn heute von den Toten aufstehen würde, gerade recht. Falls er also einen emotionalen Ausbruch haben würde, müsste er sich gezwungenermaßen zusammenreißen. John war schon immer darauf erpicht gewesen, überall einen guten, anständigen Eindruck zu hinterlassen und wollte niemandem irgendwo unangenehm auffallen.

Vor dem Restaurant standen einige Menschen, die mich durch die Rauchschwaden ihrer Zigaretten anschauten. Eilig drängelte ich mich an ihnen vorbei und betrat das Gebäude, in dem ich sofort von leiser klassischer Musik und den gedämpften Unterhaltungen edel gekleideter Leute empfangen wurde. Das alles entsprach überhaupt nicht Johns Standard, es musste also etwas Großes gefeiert werden. Fast tat es mir leid, dabei zu stören, andererseits würde er bestimmt noch glücklicher sein, wenn sein bester Freund mitfeierte. Was auch immer der Anlass war.

Schnell klopfte ich mir unsichtbaren Staub von den Ärmel meines Blazers und strich diesen glatt, bevor ich mich auf die Suche nach John machte.

„Entschuldigen Sie, Sir!“, eine Rezeptionistin eilte hinter mir her und versperrte mir den Weg. „Sie können hier nur durch, wenn Sie auf der Gästeliste stehen“

„Oh“, ich sah sie kurz überrascht an, schenkte ihr dann aber mein schönstes Lächeln. „Mein Name ist John Watson. Ich bin hier mit meiner Frau, Mary Morstan“, daran, dass das Make-Up der Dame noch vollkommen perfekt aussah und ihre Kleidung keinerlei Spuren von Schweiß aufwies, erkannte ich, dass ihre Schicht wohl gerade erst begonnen hatte. Sie konnte weder wissen, wie John aussah, noch, dass ich nicht er war. Schnell überflog sie die Liste, die sie auf ein schwarzes Brett geklemmt hatte und ihre Miene hellte augenblicklich auf, als sie die Namen fand. Mit einer einladenden Geste und einem entschuldigenden Blick ließ sie mich nun an sich vorbei und ich konnte mich in Ruhe umschauen. Der Raum war riesig und unübersichtlich, es gab viele Säulen, die zwar ganz hübsch zum Ansehen, aber ziemlich störend beim Überblicken der Gäste waren. So unauffällig wie möglich lief ich zwischen den Tischen hin und her – ein falscher Schritt oder eine eklatante Bewegung und ich würde Gefahr laufen, zu viel Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen und das war genau, was ich verhindern wollte.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich John fand. Er saß mir mit dem Rücken entgegen, doch nichts auf dieser Welt ließ mich daran zweifeln, dass er es war. Sein Haar und seine Gesten waren zu markant. Ihm gegenüber saß eine Frau mit blondem, kurzem Haar. Sie entsprach mit ihrer zarten Figur und den hübschen Gesichtszügen ganz eindeutig seiner Traumfrau, was mich freuen sollte, mir aber bloß einen weiteren Stich in die Brust versetzte.

Ich war zu weit entfernt, als dass ich ihre Gespräche hören konnte, doch als sie anfing laut loszulachen weil John etwas lustiges erzählt hatte, wäre ich am liebsten zu ihr gegangen und hätte ihr ihren Ginger Ale ins Gesicht geschüttet.

Beruhige dich, Sherlock. Sie ist seine Frau und du solltest sie akzeptieren, wenn du heute zu ihm zurück kommst. Du möchtest eure Wiedervereinigung doch nicht gleich mit einem Streit beginnen.

„Sir?“, ich erschrak, als mich eine Person von hinten antippte und drehte mich schnell um. Es war ein Kellner, der mir ein Glas Sekt, den er auf einem großen, goldenen Tablett herumtrug, hinhielt. „Möchten Sie etwas trinken?“

„Ja, gerne“, antwortete ich, nahm das Glas entgegen und trank es in einem einzigen Schluck aus, was mir einen missgünstigen Blick meines Gegenübers einheimste.

„Verzeihen Sie“, sagte ich schnell und lächelte ihn entschuldigend an. Er nickte bloß, runzelte dann aber die Stirn.

„Wieso sitzen Sie denn nicht an ihrem Tisch? Suchen Sie etwas? Die Herrentoiletten befinden sich dort drüben“, um seine Worte zu unterstreichen, zeigte er auf eine Tür am Ende des Raumes.

„Oh, nein, ich … ich habe einen alten Bekannten entdeckt. Sehen Sie, dort hinten sitzt er. Ich wollte ihn nur kurz begrüßen“, lachte ich und entfernte mich vom Kellner. Da ich seinen noch immer zweifelnden Blick im Nacken spürte, musste ich mich nun wirklich zu John begeben, obwohl ich mir gern noch etwas Zeit gelassen hätte.

Mary, die freien Blick auf mich hatte, sah immer wieder zwischen John und mir hin und her. Anscheinend kannte sie mich vom Sehen; vielleicht aus älteren Zeitungsartikeln, höchstwahrscheinlich aber eher von Johns Erzählungen und Fotos. Natürlich hatte sie mich nie wirklich kennengelernt, daher wusste sie wohl nicht, ob sie sich meine Erscheinung gerade einbildete, doch irgendwann, als ich nah genug war, um ihre Unterhaltungen zu hören, fielen auch John ihre Blicke auf. Ein Glücksgefühl machte sich in mir breit, als ich – nach zwei Jahren – endlich wieder seine Stimme hörte.

„Mary, was ist denn?“, bei diesen Worten drehte er sich in meine Richtung, sah erst durch mich hindurch, weil er mich nicht beachtete, doch dann huschte sein Blick kurz über mein Gesicht und blieb dort hängen. Ich lächelte ihn an, als er mir in die Augen blickte und einmal kräftig zwinkerte, als ob er etwas in seinen Augen hätte, das seine Sicht störte. Ich sah, wie sein Gehirn anfing, zu arbeiten und grinste, als ich merkte, wie sich die Erkenntnis in ihm breitmachte und seine Kinnlade sofort hinunterfiel. Langsam stand er auf und sah mich an, konnte seinen Blick kaum noch von mir abwenden.

Es war fast wie in den Filmen: als würde es nur noch ihn und mich im Raum geben, alles andere rückte sofort in den Hintergrund. Mein Lächeln wurde breiter, als er nun direkt vor mir stand und zu mir hoch blickte.

„Sherlock?“, fragte er, mit zitternder Stimme.

„Hallo, John“

„Was … aber du bist … du bist tot!“

„Nicht mehr“

„Wie … nein, ich frage gar nicht erst nach“

Ich schmunzelte, doch mein Lachen erstarb, als Johns Gesichtsausdruck immer verärgerter wurde.

„Was ist?“, fragte ich verwundert. Ich hatte mit Tränen oder einer herzlichen Umarmung gerechnet, nicht mit Stille und einem bösen Funkeln in Johns Augen.

„Du bist tot“, wiederholte er seine Worte, diesmal war es kaum mehr als ein Flüstern. Ich konnte sehen, wie verletzt er war, doch ich verstand nicht, warum. War das nicht das beste Geschenk, das ich ihm hätte machen können? Wir waren beste Freunde, er sollte glücklich sein, mich zu sehen!

„Freust du dich nicht?“, ich merkte selbst, wie enttäuscht ich klang.

Doch anstatt einer Antwort erhielt ich eine Faust ins Gesicht, die so unerwartet kam, dass ich mich nicht halten konnte und zu Boden ging.

Be Careful What You Wish For (Sherlock Short Story)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt