Die Blume

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"Mama! Mama Komm her!" rief er, fast so, als hätte er seinen Vater gefunden.
"Ich komm ja schon." vorsichtig kraxelte die alte dreißigjährige den Abhang hinunter zu ihm, doch sie verstummte: "Was hast..."

Dann war es ruhig.


Seine Mutter war nicht die Art von Mensch, die sich beeindrucken ließ.
Leise fragte er: "Ist das etwa...?"
"Ja."
"... Eine Blume."

Einsam verweilte sie. Sie war unschuldig daran. Sie war weder Grund für ihr Dasein, noch Grund für ihre Lage. Klein und blaublütig war sie, mehr nicht.
Der Felsen an dem sie stand, schützte sie die meiste Zeit über vor der erbarmungslosen Sonne.
Nichtsdestotrotz welkte sie bereits. Ihr Stiel schien nicht mehr stark genug, das Gewicht der Blüte zu tragen, sodass sie den Kopf hängen ließ und bis an ihr Ende die trockene und rissige Erdkruste anstarrte.

"Sie sieht schwach aus."
"Ja mein Sohn, das ist Sie. Wir können ihr auch nicht helfen, es gibt keinen gesunden Boden mehr."
"Aber... Das ist ungerecht!" seine Trauer durchnässte seine Stimme "Sie ist das Letzte, was wir haben."

Still nahm sie ihren Sohn in den Arm:" Sie ist wunderschön. Als ich in deinem Alter war, wäre sie auf einer Wiese mit all den anderen Blumen nicht aufgefallen, oder gar hässlich gewesen. Aber sieh dich doch um, nun... ist sie das schönste Lebewesen der ganzen Welt."

Dann war es ruhig. Der Junge sah in die Richtung der Blume:" Eine Welt,.. die das Leben hasst. Wir haben sie achtlos zerstört... dafür muss sogar die kleinste Blume sterben."

Sie drückte ihren Sohn an sich, während eine Träne über seine Wange lief. Es schien so, als würde er für sie weinen.
"Weißt du?" durchbrach die Mutter die Stille, "Im Inneren der Blume hält sie mit letzter Kraft einige Samen. Diese Blume wird sterben, aber sie weiß, dass ihre Samen darauf warten eines Tages neue Blumen wachsen zu lassen, wenn der Boden wieder fruchtbar ist."

"Mama. Es ist nur eine Blume." Antwortete er weinerlich. "Sie weiß gar nichts. Sie ist dumm."

"Aber du weißt es. Du weißt, dass es irgendwann wieder Blumen wie diese geben wird und, dass egal wie oft Leben endet, es immer wieder neu anfängt. Genau das war es, was deinen Vater nie aufgeben ließ."

"Papa... er wird nicht mehr wiederkommen, oder?"

Dann war es ruhig.


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