Ich muss irgendetwas an mir verändern. Irgendwann nehme ich mir den elektrischen Rasierer und fange an, meine Haare am Kopf kurzzuschneiden. Ich setze an der Stirn an und lasse den Rasierer über meine Kopfhaut gleiten. Die Haarbüschel fallen nach und nach auf den Boden. Ich setze mich in eine Ecke des Badezimmers, damit ich es nicht im Spiegel mit ansehen muss.
Immer weiter mache ich, bis der ganze Boden um mich herum von Haaren übersät ist.
Ich lasse den Rasierer auf den Boden neben mich fallen und streiche mit der Hand durch meine kurzen Haare. Es sieht richtig schrecklich aus, aber das ist mir egal.
Vom Dachboden hole ich mir meine Mütze und setze sie auf. Ich sehe aus wie vorher, doch unter der Mütze bin ich ein anderer.
Das Leben ändert sich manchmal innerhalb von Sekunden. Irgendwann kommt man selbst nicht mehr hinterher. Ich glaube, ich bin noch nie so durcheinander gewesen. Nicht nur wegen Erics Geständnis. Auch, weil ich mir meiner eigenen Gefühle bezüglich Eric unsicher bin.
Ich habe nie wirklich über uns beide nachgedacht. Überhaupt habe ich nie darüber nachgedacht, dass er in mich verliebt sein könnte. Beste Freunde, hallt es in meinem Kopf wieder. Für immer.
Warum mussten diese verdammten Gefühle dazwischen kommen? Gerade ist alles, was wir in den letzten Wochen aufgebaut haben, auseinander gebrochen.
Ich frage mich, wie lange er schon auf diese Art von mir denkt.
Schon seit er mich zum ersten Mal mit der Ukulele gesehen hat? Oder erst seit dem Konzert?
Schon wieder beginne ich zu weinen. Ich glaube, ich habe soeben meinen besten Freund verloren.
Ich wünschte, ich wüsste seine Adresse. Dann könnte ich in mein Auto steigen und zu ihm hinüber fahren.
Wir würden alles klären, uns wieder vertragen und dann.... dann...
An diesem Punkt scheitern meine guten Vorsätze.Wie soll ich damit umgehen, dass mein bester Freund in mich verliebt ist? Er ist zwar nett, hübsch, und ich kann ihm vertrauen. Aber ich könnte mir niemals vorstellen, eine Beziehung zu ihm zu haben. Verzweifelt frage ich mich, ob ich ihm falsche Signale übermittelt habe. Ich war doch vollkommen normal zu ihm, oder?
Den restlichen Tag über bleibe ich im Bett. Ich bin unfähig zu essen, unfähig zu schlafen, unfähig, zu denken. Ich starre nur an die Decke und fühle tief in meiner Brust ein zerreißendes Gefühl von Einsamkeit. Ich vermisse meinen besten Freund. Ich hätte nie gedacht, dass man jemanden so sehr vermissen kann.
Die Zeit vergeht schnell. Stunde um Stunde verstreicht. Wie im Schlafwandel stehe ich auf, esse, ziehe mich um, wasche mich, wische die Haare im Badezimmer auf und lege mich ins Bett. Ich schlafe knappe vier Stunden lang, und am nächsten Morgen komme ich kaum aus dem Bett. Trotzdem zwinge ich mich. Ich muss zur Schule. Ich kann nicht schon wieder schwänzen.
Ich packe meinen Rucksack und setze mich ins Auto. Auf der Rückbank liegt immer noch die Ukulele. Ich nehme sie in der Hand und überlege. Dann, aus einem kurzen Reflex heraus, schlage ich damit gegen die Heckscheibe meines Autos. Der Hals der Ukulele bricht, ein langer Riss zieht sich über die Scheibe. Mit tränenüberströmten Wangen werfe ich die Ukulele wieder auf die Rückbank und fahre zur Schule.
Auf dem Schulhof sehe ich Eric, doch er ignoriert mich. Er schaut permanent in eine andere Richtung und wenn ich auf ihn zu gehen möchte, verschwindet er im Gebäude. Mehr und mehr bekomme ich ein schlechtes Gewissen, obwohl ich eigentlich nichts falsch gemacht habe. Ich will einfach nur, dass wir wieder beste Freunde sind. Jetzt habe ich niemanden mehr, der mir in den Pausen dumme Witze erzählt, meine Zigaretten raucht, oder meine Lernzettel abschreibt. Niemand fährt mit mir Pizza essen oder leiht mir seine CDs. Niemand diskutiert mit mir über Gott und die Welt, niemand erzählt mir von seinem Tag. Niemand bringt mich zum Lachen und niemand wischt meine Tränen weg. Niemand wirft kleine Zettel in meinen Spind und niemand umarmt mich und sagt mir, ich sei sein bester Freund.
Jeden Tag fällt es mir schwerer, morgens aufzustehen. Ich tue nichts mehr. Ich sehe keinen Grund. Ich muss mit Eric sprechen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
Ich lasse die letzte Stunde Musik ausfallen und warte vor dem Ausgang auf ihn. Langsam kommt er aus dem Gebäude geschlurft und knipst an einem Feuerzeug herum, um eine Flamme herauszubekommen. Ein Lehrer fährt ihn wütend an, dass Rauchen auf dem Schulgelände verboten sei. Eric lässt vor Schreck sein Feuerzeug fallen. Hektisch hebt er es auf und steckt es zurück in die Tasche.
Ich folge ihm so unauffällig wie möglich. Er ist wie immer mit dem Skateboard zur Schule gekommen, daher muss ich schnell und leise gleichzeitig sein. Der Weg führt uns weg von der Hauptstraße, durch enge Seitenstraßen und schmale Gassen. Nach etwa einer halben Stunde stehe ich vor dem Mehrfamilienhaus, in dem Eric verschwunden ist. Bevor die Tür hinter ihm zufallen kann, folge ich ihm. Das Haus ist schmutzig von innen wie von außen. Bröckelnder Putz, Graffiti, Scherben, Müll.
Im dritten Stock steht Erics Nachname an der Tür. Leere Flaschen und Kartons mit Pizzarändern säumen die Tür. Ein abgestandener Geruch schlägt mir entgegen.
Vorsichtig öffne ich die angelehnte Wohnungstür und achte darauf, auf keinen Gegenstand zu treten. Die Wohnung riecht nach Schimmel, Gras und Deo. Ich betrete die kleine Küche. Eric sitzt am Tisch und liest in einem Buch, das ich ihm vor Wochen geliehen habe.
Verwundert starrt er mich an. "Adrian! Was willst du hier?"
„Eric, ich, es tut mir, ich wollte...", stottere ich. „Ich wollte nur sagen, dass es mir leid tut..." Meine Hände beginnen zu zittern.
„Verpiss dich", murmelt Eric. "Ich habe mit der Sache abgeschlossen."
Ich balle die Faust. „Verdammte Scheiße, Eric!", schreie ich ihn an. „Ich kann das nicht mehr! Ich hasse es, dass du mich ignorierst! Jetzt rede doch einfach mal mit mir! Ich will, dass wir wieder Freunde sind!"
Ich gehe auf ihn zu und packe ihn an der Schulter.
"Fass mich nicht an!", schreit Eric und schlägt mir ungeschickt gegen das Kinn. Ich lasse ihn los und halte mir das brennende Gesicht. „Eric, bitte... lass uns einen Neuanfang versuchen."
Schweigen breitet sich in der Küche aus. Nur das Ticken einer Uhr hallt durch die Wohnung. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Ich drehe mich um und lasse Eric am Küchentisch sitzen. Die nächsten Wochen sehe ich ihn nicht mehr.
Ich gehe weiter zur Schule. Ich besorge mir einen neuen Job in einem anderen Supermarkt. Ich kümmere mich wieder mehr um meine Hausaufgaben und meine Familie. Langsam heilen die Wunden, die Eric hinterlassen hat. Manchmal, wenn ich einen Skater an mir vorbeifahren sehe, denke ich noch an ihn. Es gibt so viel, was ich ihm noch sagen muss. Er hat die Wahrheit verdient, mehr als jeder andere. Doch ich finde einfach keine Worte dafür, was ich für ihn empfinde. Sobald ich einen Gedanken gefasst habe, entrinnt er mir sofort wieder. Ich möchte mich für alles entschuldigen. Dafür, dass ich Unglück in sein Leben gebracht habe. Dafür, dass ich nicht derjenige sein konnte, den er sich gewünscht hat. Ich möchte, dass er weiß, wie viel er mir bedeutet. Er war alles, was ich hatte. Die Situation zwischen uns wird nie wieder so sein, wie sie einmal war. Doch ich möchte, dass er mich als besten Freund in Erinnerung behält.
Ich stehe in der Schule vor meinem Spind. Der Unterricht ist vorbei. Meine Schultern beben. Ich habe längst keine Tränen mehr übrig, doch mein stockender, keuchender Atem, mein dröhnender Schädel und meine aufeinander schlagenden Zähne tun das Übrige.
Ein Zettel klebt in der Tür meines Spinds.
Adrian. Ich hab dein Radio geklaut. Es tut mir Leid. Alles. Vielleicht macht eine Kippe nicht alles wieder gut, aber bitte lass es ein Anfang sein. Ich wünschte, ich könnte dir noch etwas sagen, aber ich kann es nicht. Bitte verzeih mir.
In meinen Spind gepresst, liegen die Einzelteile meines Radios. Ich schmeiße sie zu Boden. An meiner Spindtür ist mit Klebeband eine Zigarette befestigt. Ich löse sie ab und stecke sie an.
Dann knalle ich die Tür zu und gehe nach draußen, um zur Arbeit zu fahren.